Nachfolgend ein recht interessanter Bericht, der ein wenig mehr über Adolf Koch und die Adolf-Koch-Gemeinschaft aussagt.

Ein Jude spricht sich frei

Von Horst Naftaniel, Eupen (Belgien)
Aus: Helios, Heft 35 / Juli 1953

In einer typischen Arbeitergegend im Nordosten Berlins, in der Nähe der Wohnung der berühmten Käte Kollwitz, verlebte ich meine Kinderjahre.

Mein Vater - Jude - fiel als Unteroffizier im ersten Weltkrieg 1917 an der Westfront. Meine Mutter war allein, schwer herzleidend.
Die erste bewußte Erinnerung an meine Kindheit ist die Aufnahme in das Jüdische Waisenhaus Berlin-Pankow. Ich war damals noch nicht sieben Jahre alt. In der Nachkriegszeit gab es kaum Kleider und Wäsche.
„Wir im Waisenhaus” hatten nagelneue uniformähnliche Kleidung, die für alle Jungen besonders hergerichtet wurde. Und gerade das fiel mir auf, denn die anderen Buben und Mädel auf der Straße waren sehr ärmlich gekleidet, sie sahen blaß aus und hatten wenig zu essen. Ich hatte das Gefühl, „etwas Besonderes” zu sein. Die neuen Kleider waren Spenden ehemaliger Zöglinge des Waisenhauses, die bereits Geld verdienten.
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Allein spazieren gehen und spielen durften wir nicht. Die Schule war im Haus. Jüdische Lehrkräfte unterrichteten uns. Irgendwelche Berührungsflächen mit nichtjüdischen Kindern hatten wir niemals.
Freiheit hatten wir nur im Badezimmer. Dort balgten wir uns nackt und tobten uns weidlich aus. Leider war das nur am Freitag vor dem Sabbath der Fall. Noch heute verbinde ich mit diesen Badestunden in meiner Erinnerung Lachen und Freude.
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In jedem Sommer waren wir für einige Wochen in einem jüdischen Heim an der Ostsee bei Wustrow. Aber auch hier, selbst beim Weg zum Strand und zurück, die gleiche Ordnung in Viererreihen, die gleiche Haltung, die gleiche Kleidung, der gleiche Haarschnitt: immer alles hübsch auf Vordermann. Es war ekelhaft, denn wir sahen oft andere Kinder mit ihren Eltern.
Manchmal waren wir Berlinder Jungen doch pfiffig genug, auszurücken. Wir strolchten dann zu Zweit oder Dritt durch die Dünen. Das war aufregend - und schön, einmal ohne Zwang und Isolierung zu sein.

Zwölf Jahre alt war ich, als ich die ersten nackten erwachsenen Menschen sah. Zwei Jungen und ich hatten uns durch die Dünen einige Kilometer weit von unserem Heimbadestrand nach Norden gepirscht ... und standen plötzlich vor einer größeren Gruppe nackter Mädchen. Wir waren starr vor Staunen. Die Mädchen aber über uns „bekleidete” Jungen nicht - sie riefen uns freundlich zu, doch zu ihnen zu kommen. In uns löste das alles ein Gefühl der Angst aus. Wir zogen uns lieber vorsichtig zurück und lagen dann staunend im Dünengras.
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Ich weiß es genau, es fiel unter uns Jungen kein häßliches Wort und wir erzählten den anderen nichts. Aber abends verglich ich meine weiße Haut mit dem braunen Leib der Mädchen.
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(mit 17 Jahren Gesellenprüfung zum Damenfriseur)
Damals war ich auch in der »Deutsch-jüdischen Jugendgemeinschaft«, in der Jungen und Mädchen organisiert waren. Da lernte ich ein Mädel kennen, die aber keine Jüdin war: sechzehn Jahre, klein, zierlich, aber energisch. Und diese kleine »Lie« gab mir das, was mir fehlte: einen Blick in die Weite der Welt. Wie waren verliebt, aber niemals mehr. Es war eine echte Zuneigung. Lie war Mitglied der Körperkulturschule Adolf Koch in Berlin. Sie hatte mir viel von den Menschen, die sich frei bewegen, ohne Kleider und ohne Scheu erzählt, auch von den aufklärenden Vorträgen und von den regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen.
Eines Abends faßte ich Mut und ging mit. Mit einer Selbstverständlichkeit sagten sich alle »DU« - alle außer den Lehrern waren nackt. Es wurde gelacht, geneckt, gescherzt, in der Gymnastik gearbeitet, gespielt, gesungen, geduscht, gesonnt ... Aber mir war es durchaus nicht selbstverständlich, dass mich weder Adolf Koch noch sonst jemand nach meiner Religion oder Rasse fragte.
Ich war das erste Mal Gleicher unter Gleichen.
Ich fühlte mich wohler, als sonst zu Haus!

Und dann erlebte ich, wie das »Tausendjährige Reich« auch in die Adolf-Koch-Bewegung seinen Einzug nahm. Die SA vertrieb uns von unserem schönen großen Gelände in Berlin-Selchow, riß die Zelte nieder, verwüstete die Blockhütten und fuhr schließlich auf Lastwagen alles ab. Wir mußten mit den anderen ausrücken und waren froh, so davongekommen zu sein.
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Adolf Koch hat von seinem Eigentum, auch von seinem schönem Flügel im großen Gymnastiksaal niemals etwas wiedergesehen. Die Gewalt triumphierte. Später wurden dann auch die weiteren Räume der Adolf-Koch-Schule heillos verwüstet. Alle Schriften und die große Bibliothek wurden auf Lastwagen verfrachtet und im Lustgarten öffentlich verbrannt.

Diese Aktion »wider den undeutschen Geist« erfolgte gemeinsam mit der Schließung des
Instituts für Sexualwissenschaften, dessen Leiter Dr. Magnus Hirschfeld auch in der
Leitung der Adolf-Koch-Schule tätig war.
Der damalige Preußische Kultusminister Rust erklärte, dass alles Fremdrassige in Wort und
Schrift ohne Entschädigung als Folge der marxistischen Gewaltherrschaft unter jüdischer
Führung vernichtet werden würde.

Professer Julius Bochnik (kurz »Jule« genannt) stand zwischen dem Schutt und weinte, denn er hatte die große Bibliothek immer weiter ausgebaut und sorgfältig gepflegt.
Adolf Koch aber sagte trotzig und verbissen: „Irgendwie und irgendwann muß das alles einmal bezahlt werden!”
Er verzweifelte nicht und entwickelte sofort einen Plan zur illegalen Weiterarbeit.

Viel war in mir zerbrochen durch so viel menschliche Gemeinheit. Als dann die jüdischen Geschäfte durch Schilder besonders gekennzeichnet wurden, als überall die Juden ausgeschlossen werden mußten, fühlte ich wieder die Bedrängung durch meine Rasse. Wir Juden durften nur noch hier und da geduldet arbeiten. Ich war ständig in Angst. Sehnsucht nach Schutz lebte in mir und eine unbändige Wut, ein Wunsch nach Rache.

Aber der Kreis um Adolf Koch hielt zusammen. Nach 1936 wurde das Institut für »Eubiotik« gegründet. Keiner wußte, was das eigentlich bedeuten sollte. Nach außen war es ein Massage- oder Schönheitspflegesalon. Prompt beschlagnahmte die SS dieses Institut nach einem Jahr.
Unbeirrt baute Adolf Koch in der Ritterstraße etwas Neues auf: »Stätte für Lebensregelung«.
Ein sehr verständnisvoller Hauswirt, ein Demokrat - Dietrich, der, wie Adolf Koch, Hitler haßte - half mit.
Gemacht haben wir immer das gleiche was wir auch früher taten: Gymnastik... Mit Begeisterung sangen wir Spottlieder auf Hitler und sein Regime. Hier waren die Menschen geblieben, was sie vorher waren: Gleiche unter Gleichen, nämlich: Menschen!

Die jüdischen Sternträger hielten ihre Abzeichen geschickt unter dem Rock (Anm.: auch Jacke) verborgen. Das taten wir, um nicht „unseren Adolf” unnütz zu gefährden. Noch heute ist es mir ein Rätsel, dass wir dort auch mit dem Kreis der jüdischen Schwestern unbehelligt zusammensein konnten.
Wieviel Kraft und Trost wir mitnahmen, können nur die ermessen, die es erlebten.
Im KZ habe ich oft von dieer Kraft gezehrt, die mich aufrecht hielt in aller Qual. Daß von hier viele Verfolgte und Juden ihren Weg über die grüne Grenze in das Ausland nahmen, ist wiederum charakteristisch für die Menschlichkeit dieser Adolf-Koch-Gemeinschaft, für ihre echte Verbundenheit und dafür, dass es keinen Verrat gab.

Nach der Reichskristallnacht verließ Horst Naftaniel mit seiner Frau Deutschland.
In Belgien fanden sie zunächst Zuflucht, bis sie nach dem deutschen Truppenein-
marsch in das KZ Auschwitz deportiert wurden.
Seine Mutter wurde erschossen, seine Frau hatte er nie wieder gesehen.
Horst wurde in das KZ Flossenbürg nach Bayern verlegt, wo er dann schließlich
von der US-Armee befreit wurde.
Nach seiner Befreiung sah er auch seinen Sohn wieder, welcher 4 Jahre lang ver-
steckt gehalten wurde.

Im Sommer 1953, nach fünfzehn Jahren, war ich wieder in Berlin, in meiner Heimat, bei Adolf Koch, bei seinen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen.
Ab 1946 hat er aus Trümmern ein neues Institut geschaffen.
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