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„Positive Sexualerziehung”

von Therese Mülhause-Vogeler

Es ist wohl zu keiner Zeit soviel über sexuelle Aufklärung der Kinder geschrieben und gesprochen worden, wie in unserer, und es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass hier tatsächlich eine Schwierigkeit liegt, zumal wenn man im Gedenken an die eigene Kindheit feststellen muss, dass in dieser Richtung früher wenig oder garnichts getan wurde, also die Gestaltung des späteren Sexuallebens mehr oder minder Zufällen anheimgegeben wurde. Und wer sich überhaupt seiner Kinderzeit recht zu erinnern weiß, wird dabei auf manches Peinliche und Unangenehme, ja, vielleicht sogar Grausige oder Beschämende an Erlebnissen im Seelischen stossen, das man den eigenen Kindern nun wirklich gern ersparen möchte.

Aber über der Wichtigkeit der Fragen: wann, wie, auf welche Hilfsmittel gestützt, kläre ich mein Kind auf, vergißt man gern, dass die Aufklärung immer nur einen Teil, und zwar nicht durchaus den wichtigsten, einer Sexualerziehung ausmacht. Die Verhältnisse im Geschlechtsleben, wie sie waren und zu einem großen Teil heute noch sind, stellen aber an verantwortungsbewußte Eltern dringend die Forderung, ihren Kindern das Wissen und die Eigenschaften mitzugeben, die ihnen eine bessere Gestaltung ihres Geschlechtslebens ermöglichen.

Rückblickend auf die Sexualerziehung früherer Jahrzehnte, die wir in gewissen Kreisen heute noch finden, vor allem in den sehr „bürgerlichen” oder in den kirchlich-dogmatisch sehr engen, müssen wir sagen, dass sie recht negativ war. Man kann von einer Erziehung eigentlich überhaupt nicht reden auf diesem Gebiete, denn sie beschränkte sich auf eine Abwehr der peinlich wirkenden kindlichen Wißbegier, auf die nur scheinbar positive Forderung der Schamhaftigkeit und günstigenfalls auf einige versteckte Hinweise oder Feststellungen über Funktionen der Geschlechtsorgane, wenn die Ratlosigkeit des Knaben bei ersten, auf physische Reize zurückgehenden Erektionen, oder des Mädchens, bei Eintreten der ersten Monatsblutung, es gar zu gebieterisch forderte.

Ich nannte die Schamhaftigkeitsforderung nur scheinbar positiv. Sie knüpfte sich ja nur an das Verbergen gewisser Körperzonen bei alltäglichen Gelegenheiten. Denn schon auf dem Balle oder bei großen Gesellschaften lernte das junge Mädchen aus „guter Familie”, dass bei solchen Gelegenheiten Schamhaftigkeit über einen allzuviel Einblick gewährenden Kleidausschnitt nicht am Platze sei. Wie überhaupt die Zusammenhänge zwischen Mode und Schamhaftigkeit nur allzu deutlich dartun, dass es sich bei der Scham für den Leib und seine Organe mehr um eine Überlieferung und Gewohnheit handelt, denn um eine „angeborene Eigenschaft”. Und gerade weil die Schamhaftigkeit nur gefordert wurde für den Leib, weil sie dabei jede vernünftige Begründung vermissen liess, bot sie keinen positiven Halt bei der Gestaltung des Geschlechtslebens. Wie ja beim heranwachsenden Jungmann, sobald er erst einmal die seelisch hochempfindliche Zeit der Pubertät überwunden hatte, im allgemeinen·eine geringere, Rolle zu spielen scheint, als beim Mädchen. Und beim Mädchen bleibt noch sehr die Frage offen, welches die stärkste Hemmung war, die eine etwaige Liebeshingabe ohne die Legalisierung durch Kirche und Standesamt, abwehrte: die Scham für den nackten Leib oder die Furcht vor den möglichen Folgen und der daraus resultierenden gesellschaftlichen - Ächtung. Mir scheint, als habe in den weitaus meisten Fällen das letztere den Ausschlag gegeben.

Die Folgen dieser negativen Einstellung der Erzieherpersonen zu der Forderung einer geschlechtlichen Erziehung sind zu offensichtlich und so häufig aufgezeigt, dass hier nur eine kleine Aufzählung nötig sein wird: Übertriebene Beschäftigung mit der Sexualsphäre in der Phantasie, seltsame bis grauenhafte Zeugungs- und Geburtstheorieen, die vielfach zu seelischer Impotenz und Frigidität führten, Versuch einer ausreichenden Spannungslösung durch Ersatzhandlungen (Onanie), Neigung zu homosexueller Betätigung, auch da, wo keine abnorme Veranlagung sie verursachte, Spaltung des Sexuallebens in erotische Beziehungen ohne Triebbeteiligung (besonders stark in der Pubertätszeit) und rein sexuelle, die dann nach Abklingen der Erregung als widerlich und häßlich empfunden wurden, durch all dieses später die Unfähigkeit, die Ehe beglückend und harmonisch zu gestalten. Nicht zu sprechen von Prostitution und Verbreitung der Geschlechtskrankheiten, bei denen die Unwissenheit eine unheilvolle Bedeutung hat.



Da aber nun glücklicherweise eine immer bewußter werdende Gesamterziehung der jungen Generation durch die ältere Platz greift, da man diese gewichtigen und verderblichen Zusammenhänge erkannte oder mindestens erahnte, ergab sich ganz von selbst die Forderung einer positiven Sexualerziehung, d. h. einer Hinleitung des jungen Menschen zu harmonischer Gestaltung seines Geschlechtslebens.

Was will man unter einer solchen harmonischen Gestaltung verstehen?
In Harmonie sind immer die Tatsachen menschlichen Lebens, die man nicht als störend empfindet. In Harmonie ist der Leib, wenn alle seine Organe ungehemmt richtig funktionieren - dann aber werden wir uns ihrer nicht bewußt.

In Harmonie sind Leib und Seele, Leibseele und Geist, wenn man keinen Zwiespalt in sich spürt, der sich in Depressionen, Verzweiflungsstimmungen, Mutlosigkeit oder Lebensangst zu äußern pflegt. In Harmonie ist das Geschlechtsleben, wenn es keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn es nicht als Problem gefühlt wird, wenn es nicht zu immer wiederholtem Grübeln herausfordert. Zeichen der Disharmonie ist immer, wenn man sich wieder und wieder aus eigenem Bedürfnis heraus mit diesen Fragen beschäftigt. Man kann sich natürlich auch (und muss es sogar) mit diesen Fragen beschäftigen als der Erzieher, der andere, Suchende, Ratfragende zu leiten oder ihnen mindestens einen Fingerzeig geben soll.

Diese Unauffälligkeit des Geschlechtslebens im Lebensganzen aber ist nicht erreicht, wird auch von der heute lebenden älteren Generation in den seltensten Fällen nur erreicht werden, weil wir mit alle den Hemmungen aus veralteten Vorurteilen und Sittlichkeitsbegriffen, aus falscher Erziehung und ungenügendem Durchdenken dieses Gebietes behaftet sind. Aber das darf uns keineswegs veranlassen, uns als völlig unzuständig zu erklären und die Jugend ihre Irrwege und Umwege laufen zu lassen, um sie demselben unerfreulichen Zustande auszuliefern, den wir an uns erlebten oder noch erleben.

So ergibt sich für uns die Frage, unter welchen Bedingungen das Geschlechtsleben innerhalb des Lebensganzen als nicht störender Bestandteil steht, sondern vielmehr als wertvoller und beglückender. Das wird dann der Fall sein, wenn sich unsere Lebensführung im Geschlechtlichen deckt mit den Forderungen ethischen Verhaltens, die wir an uns selbst stellen, ohne daß wir das als Zwang und Vergewaltigung unseres Wesens verspüren. Denn schon hier steht eine Forderung auf, die uns von unserer Menschenwürde diktiert ist: sich nicht versklaven, nicht vergewaltigen lassen. Und aus dieser Forderung ergibt sich zweifellos, dass wir weder den Trieb als unsern absoluten Herrn anerkennen und ihm blind und wahllos folgen, noch aber die naturhafte Bestimmung des Menschen als Geschlechtswesen gewaltsam unterdrücken um eines Reinheitsfanatismus willen, der weder seinen Zweck erreicht (eine asexuelle Einstellung, die geschlechtliche „Reinheit”) noch immer unschädlich wäre, wenn auch die seelischen Schäden schwerer erkennbar sind als körperliche.

Die Gestaltung solchen harmonischen Geschlechtslebens setzt voraus Kenntnis der geschlechtlichen Funktionen, Kenntnis auch über die Gefahren ungeregelten Geschlechtslebens (Prostitution und Geschlechtskrankheiten), setzt voraus triebregelnde Willensbildung, Verantwortungsbewußtsein und seelische Sauberkeit (die übrigens beinahe immer mit leiblicher übereinzugehen pflegt).

Welche Mittel sind den Erziehern in die Hand gegeben, um die oben gezeichnete Verfassung des Menschen zu fördern, zu bilden?

Aller Erziehung erstes und wichtigstes Mittel ist das Beispiel. Keine Moralpredigt wirkt so stark, besonders in der Jugend, wie das Beispiel geliebter und geachteter Menschen. Der junge Mensch bekundet geradezu einen Drang nach Verehrung, er „muß sich seinen Helden suchen, dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet”, wie Goethe sagt. Hier werden die denkbar größten Ansprüche an die Leistung des Erziehers gestellt.

Ein weiteres Mittel ist Einsicht zu lehren in die Zusammenhänge, das Gesetz von Ursache und Wirkung überall aufzuzeigen. Ein letztes ist die Gewöhnung. „Jung gewohnt, alt getan” ist zwar eine Binsenwahrheit aber doch eine Wahrheit, die nur zu häufig vernachlässigt wird.

Jede erzieherische Einwirkung aber wird illusorisch, wo das Vertrauen des Zöglings zu seinem Führer fehlt. Darum wird Vertrauen (anstelle der früheren Autorität) Grundlage auch einer rechten Sexua1erziehung, wird sie hier umso stärker, als die Beunruhigungen des Wesens, die dem Jugendlichen, besonders, in der Pubertätszeit, kommen, einen fremden, beinahe beängstigenden und in vielen Fällen beschämenden Charakter tragen. Aber um solche seelischen Geschehnisse aussprechen zu können bedarf es stärksten Vertrauens zu dem, der der naturgegebene (Eltern) oder erwählte (Lehrer oder älterer Freund) Führer ist.

Besonders günstig liegen die Bedingungen für eine positive Sexualerziehung in den Kreisen der Freikörperkultur, und das ist der Grund, weshalb wir uns immer wieder einmal, wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten mit diesen Fragen in unsern Zeitschriften befassen, befassen müssen, wenn wir nicht an dem tatsächlichen Leben und den Schwierigkeiten, die es bietet, blind und scheu vorübergehen wollen. Den Erweis einer Erleichterung positiver Sexualerziehung durch die Freikörperkultur zu erbringen, soll einem weiteren Aufsatz vorbehalten sein.

Eine unschätzbare Lösung des Erziehungsproblems finden die Eltern in der Freikörperkultur. Hier wächst das Kind heran, gewöhnt an seine Nacktheit, und die der Eltern und Geschwister.
Es wird der Unterschiede zeitiger gewahr, die zwischen dem Körperbau der Geschlechter bestehen, aber es nimmt sie als etwas Natürliches hin. Die Fantasie kann nicht mehr hinter verhüllenden Kleidern suchen. So gibt es ein neues, freies, gesundes und starkes Geschlecht.


aus: Licht-Land - Ausgabe 1 / 1933

Anmerkung:
Dieser Artikel von Therese Mülhause-Vogeler ist über 80 Jahre als, hat aber in den meisten Punkten (leider) nichts an Aktualität verloren.

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