Historische Nacktwanderung in der Heide, 1929

Lüneburger Heide  -  Wandertage in der Heide
von Therese Mülhause-Vogeler (gekürzt)

Die Königskerze ¹
Wir ließen das Dorf hinter uns und schritten in den frischen Morgen, mit unbeschwertem Herzen, sonnenselig, wanderfroh. Eine kleine Tannenschonung mußten wir noch durchqueren, und dann würde sie vor uns liegen, gedehnt, weit, unendlich schier, die Lüneburger Heide. Der Weg durch die Schonung war kurz. Schon wichen die Bäumchen vor uns und gaben den Blick frei. Da wandte sich mein Auge dem Waldsaume folgend, seitlich abgleitend. Entzückt blieb ich stehen und schaute. Auf dem graugrünen Bodenpolster stand schlank emporgereckt eine Königskerze, leuchtend wie ein fein gehämmertes Gold in der Sonne. Keine andere neben ihr, sie allein, wie ein einzigartiges Geschöpf Gottes. Was war es denn, das mich an diesem Anblick so tief bewegte? War es die zarte, goldklare Schönheit der Blume, die mir hier zum ersten Male aufging? War es ihre stolze Einsamkeit, ihre schlanke, im Winde wiegende Anmut? Oder sprach eine geheime, tiefere Verbindung von ihr zu mir in meinem Herzen? Mir war, als sei diese Blütenstaude ein verwunschen Königskind.

Heidweg
So sind die Wege alle hier in der Heide, bald schmal wie ein Fußpfad, oder zwei tief eingeschnittene Wagenspuren, bald breit, gemächlich, hinschlendernd, wie ein Wanderer, den das Ziel nicht kümmert, dem am Wege selbst und seinen Erlebnisfreuden liegt. Zu beiden Seiten, odt den Weg überwuchernd, grünt die Heide, noch nicht in Blüte, zart nur überhaucht von einem mattlila Schein wie von einer Ahnung kommender Herrlichkeit. Vor uns her den Weg entlang flattern Falter, ganz kleine, bunt schimmernde Perlmuttfalter und die kaum größeren Bläulinge. Sie gaukeln von einem Wegrande zum andern, lassen sich hier und da auf einer verfrühten Blüte nieder, schlürfen den letzten Honig aus der rosafarbenen Glockenscheide schon welkender Glöckchen, um dann, wieder erfrischt, weiter zu taumeln.
Da steht vor uns die Heide plötzlich schon in Blüte, leuchtend, in kräftiger Farbe, so daß es uns schier unwahrscheinlich dünkt, daß das die Heide sein soll. Und es ist auch keine Heide. Als wir uns neigen, die Blütchen näher zu betrachten, werden wir es gewahr: Teufelszwirn ist es, der uns Heidekraut in Blüte vortäuschte. In Wahrheit ist er ein starker Feind des Heidekrauts, ein Würger, der der überfallenen Pflanze den Saft entzieht.

Gewitter in der Heide
Drüben am Horizont steigen schwarze Wolken auf, drohend, düster. Hamburg schickt sie uns herüber. Heiß genug war der Tag, und eine Kühlung wäre auch uns willkommen. Aber noch leuchtet auf unserm Wege der Sonnenschein in unverminderter Kraft, während drüben schon Blitze zucken, und erster Donner dröhnend über die Weite der Heide rollt. Wir meinen, wir hätten noch lange Zeit, dem Schauspiel zuzuschauen, ohne doch naß zu werden. Aber schon ist das Unwetter da mit unheimlicher Geschwindigkeit - Kein Schutz vor dem in wahren Gießbächen stürzenden Regen. Zurück? - Vorwärts? - Es scheint, das eine Dorf liegt eben so weit hinter uns, wie das andere vor uns. Also - vorwärts! Unter Regen, heulendem Sturm, der die Machangelbäumchen beugt, Blitzzucken und Donnergebrüll eilen wir dem nächsten Dorfe zu. Noch ehe wir es erreichen, wird schon der Himmel wieder licht.


Mittag am alten Stein
Blauer, blauer Himmel - Sonne - Sonne ! Kein einziges Wölkchen in der unendlichen Klarheit. Und eine Stille, eine Stille, die in ihrer Wollkommenheit fast hörbar wird. Wir rasten am alten Stein, oder richtiger an einer Steingruppe, die fast wie ein Grabmal steht.
Hermann Löns, In der Lönsheide sind wir - Es durchschauert mich wie der Hauch eines kalten Atems. Da wache ich wieder auf aus meiner Träumerei, lasse mich von der Sonne durchglühen, die Seele vom Himmelsblau durchstrahlen und lausche in die Stille.



Quelle: Lachendes Leben - 4/1930
Alle Pflanzenbilder unter © CC-Lizenz

¹ → Königskerze, staudenartige, bis zu 2m hoch wachsende Pflanze
Anmerkung
Heute würde man diesen Wanderbericht sicherlich etwas anders verfassen.
Dieser Wanderbericht ist auch deshalb so interessant, weil Therese Mülhause-Vogeler sprichwörtlich
mit „offenen Augen” unterwegs war und stets einen Blick für die sie umgebende Natur hatte.

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