Cèzefahrt

Viele von uns kennen das Gefühl, einen Ort oder einen Menschen wiederzuerkennen, von dem man sicher weiß, dass man ihn vorher nie gesehen hat. Ahnungen an eine längst vergangene Zeit tauchen in uns auf, verwirren uns und hinterlassen ein Gefühl der Ewigkeit.

Gewöhnlich setzen wir an der alten Steinbrücke bei Riveres ein. Dann geht es den munter dahin plätschernden Bach hinunter. Nach knapp einem Kilometer rutsche wir eine kleine Stufe hinab und zirkeln das Boot anschließend durch enen niedrigen Steinbogen der Brücke von Rochegude. Ansonsten gibt es keine Schwierigkeiten zu überwinden. Je nach Wasserstand kann uns die Strömungschon mal unter Bäume und Büsche ziehen. Doch rechtzeitig ausweichen, anhalten oder aussteigen, stellt kein Problem dar.
Bei der Mühle kurz vor Montclus müssen wir tragen, wenn zuwenig Wasser über die Wehrkrone fließt. Jetzt nur noch wenige Meter Fahrt, bis zu der Brücke von Montclus mit ihren erstaunlich breiten Betonpfeilern. Hier beenden wir unsere Ausfahrt. Doch für heute haben wie einen etwas anderen Cèze-Ausflug geplant. Start und Ziel ist die Domaine de Sablière, ein wunderschönes Naturistengelände auf dem wir campen. Wir werden nur wenige Kilometer aufwärts passeln, und uns dann flußabwärts treiben zu lassen.
Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Schon bald erwärmt uns die an einem makellos blauen Himmel stehende Sonne. Nackt schieben wir die Boote ins Wasser. Nur ein Handtuch, eine Wasserflasche und die Fotoausrüstung nehmen Eva und ich mit.

Die Strömung ist gering und so bedeutet es für uns keine Anstrengung, vorwärts zu kommen Unterhalb kleinerer Schwälle müssen wir aussteigen, dann treideln wir die Boote wenige Meter. Am linken Ufer wachsen Bäume und Büsche. Diese dünnen kleinen Eichen sind überzogen mit silbrig glänzenden Moos. Kiesbänke bilden kleine Lichtungen und laden zur Rast ein.

Am rechten Ufer baut sich eine Felswand auf. Langsam wächst sie in die Höhe und schiebt sich nahe ans Wasser. Auf einem Felsvorsprung, knapp über dem Meeresspiegel hocken zwei Buben und angeln. Neugierig betrachten sie unsere Boote, ruhig fahren wir am gegenüberliegenden Ufer an ihnen vorbei. Im laufe der Zeit hat sich der Fluß ein Bett gegraben. Zeitweise mäandert er stark, unbeinflußt von Menschenhand. Nur bei Hochwasser verläßt er seinen vorgegebenen Weg. Dann kommt es vor, dass die Wassermassen sich einen neuen Durchlaß und Abfluß suchen, Halbinseln werden dann durchschnitten. Sträucher, Äste und Bäume niedergedrückt, was im Weg steht, wird überrollt.

Doch jetzt haben wir es mit Niedrigwasser zu tun, wenig genug, um nur mit Geschrappe und Gerutscheuns unseren Weg vorwärts zu bahnen.

An einer scharfen Kehre schieben wir unsere Boote auf dem Kiessand. Abgesehen vom Plätschern des Flusses und dem Geräusch unserer bloßen Füsse im Kies, umgibt uns eine Stille. Die Sonne brennt auf uns nieder, kein Lufthauch kühlt uns ab.

Der Kieshang steigt leicht an, und dort wo die freie Fläche endet, wo der Bewuchs mit Bäumen und Büschen beginnt, liegt ein gewaltiger Steinwürfel...

Nackt wadern wir über den Kiesstrand. So wie ich spürt auch Eva den Hauch der Vergangenheit, der diesen Ort erfüllt.
Wie magisch angezogen nähern wir uns dem Stein. Vorsichtig erklettert Eva ihn, dann streckt sie sich lang auf dem Rücken aus. Die Wärme der Sonne, der Duft der Pflanzen und Bäume, das Murmeln und Wispern des vorbeifließenden Wassers und das Bewußtsein des eigenen Körpers bringen sie dazu, langsam die Füße heranzuziehen, um sich dann mit Armen und Beinen hoch zu stemmen, der Sonne entgegen. Sie ahnt die Gehemnisse der Mythen und Frauen aller Zeiten.

Lang und ausgestreckt liege ich im warmen Sand. Traum , Illusion und Wirklichkeit vermischen sich. Ich spüre die Schwere meines Körpers, es gelingt mir nicht, meine Augen zu öffnen. Als ich nach langer Zeit endlich wieder zu mir komme, finde ich Eva schlafend auf dem Sein. Erst jetzt fällt mir die Verwandtschaft des Platzes zu einer antiken Arnea auf.Die steil aufragende Felswand, von der aus die gesamte Halbinsel überblickt werden kann, mit dem Opferstein in der Mitte, denn um nichts anderes handelt es sich hier.

Still und nachdenklich stegen wir in die Boote und lassen uns den Fluß hinabtreiben. Niemand von uns beiden mag sprechen, das soeben Erlebte und Gefühlte ist noch zu stark in uns.

Als wir die Domaine de Sablière erreichen, versinkt die Sonnehinter dem Höhenzug, der uns den Tag über begleitet hat. Abends sitzen wir zusammen mit Freunden am Lagerfeuer. Die Ereignisse des Tages klingen in uns nach. In warme Decken gehüllt, genießen wir das wärmende Feuer und durch die Dunkelheit leuchten hoch oben die Sterne, genauso wie vor Jahrtausenden.

Text: Wolfram Freutel
 

 

Aktualisierungen:

31.05.2024 → Bilder hinzugefügt
30.05.2024 → Seite erstellt