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Was ist FKK ?

Ein philosophischer Essay zur Freikörperkultur

von Uli Uschberg

Freikörperkultur / Naturismus ist eine Lebensart in Harmonie mit der Natur.
Sie kommt zum Ausdruck in der gemeinsamen Nacktheit, verbunden mit Selbstachtung
sowie Respektierung der Andersdenkenden und der Umwelt.

(Deutscher Verband für Freikörperkultur e. V.)

Dieser Essay ist ein Versuch, das eigentliche Wesen der Freikörperkultur darzustellen. Falls dem ein oder anderen manche Gedanken zu überzogen oder utopisch erscheinen, so sei gesagt, dass es freilich nicht die Absicht ist, die gesellschaftliche Wirklichkeit der Freikörperkultur abzubilden. Ein Ideal davon vor Augen zu haben, scheint aber gerade für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sowie einer lebenswerten Gesellschaft nützlich zu sein.

Alle Wahrheit durchläuft drei Stufen. Zuerst wird sie lächerlich gemacht oder verzerrt.
Dann wird sie bekämpft. Und schließlich wird sie als selbstverständlich angenommen.

Arthur Schopenhauer
(1788-1860)
Spezialinfo.com → Philosophisch-politischer Diskurs zur Freikörperkultur

 

Die Frage, was Freikörperkultur ist, hat eine viel größere Bedeutung, als ihr auf gesellschaftlicher Ebene gemeinhin zugestanden wird. Tatsächlich tut hier Aufklärung besonders deshalb Not, weil die Freikörperkultur aufgrund mangelnder öffentlicher Sensibilität, Unwissenheit und unhinterfragter Vorurteile schlechthin tabuisiert wird (ähnlich wie einst sexuelle Aufklärung ein gesellschaftliches Tabu war). Eine Klärung des Wesens der Freikörperkultur wird jedoch zeigen, dass sie im Grunde eine politische Dimension besitzt, die gleichermaßen die Freiheits- und Menschenrechte sowie nicht zu-letzt die Menschenwürde betrifft. Die Freikörperkultur in der öffentlichen Wahrnehmung ins rechte Licht zu rücken und sie damit zu ihrem Recht zu führen, dürfte dabei eine der schwereren Aufgaben sein. Denn zum einen gibt es zu kaum einem anderen Thema dermaßen verfestigte Vor- und Fehlurteile, die selbst wiederum nicht als solche erkannt oder empfunden werden, sondern als selbstverständlich gelten und daher nicht hinterfragt werden. Zum anderen erkennt dabei der philosophische oder psychologische Blick eine allzu (un)menschliche Verhaltensweise: Je deutlicher ein gesellschaftliches Fehlverhalten an seinem Ursprung aufgezeigt wird, desto vehementer wird es widersinnigerweise und zum eigenen Schaden verteidigt bzw. desto weniger darf darüber gesprochen werden (ein Umstand, der in unserer momentanen gesellschaftlichen Wirklichkeit besonders in Bezug auf die Freikörperkultur besteht). Eine zentrale Schwierigkeit bei diesem Vorhaben ist es deshalb, die Bereit-schaft, sich mit diesem Sachverhalt auseinanderzusetzen, bei denjenigen Menschen zu wecken, die sich durch eine logische, politische oder ethische Argumentation normalerweise nicht in ihrer ge-wohnten Haltung beirren lassen (wollen); sei es, weil sie sie erst gar nicht nachvollziehen oder weil die ängste, die mit einer Verhaltensänderung einhergehen, eine zu große Rolle spielen.

Die Bedeutung und Problematik dieses Themas erschließt sich also nicht daraus, dass der FKKler nackt in der Sonne liegen oder nackt auf einem schönen Weg spazieren will (1) - denn wenn der Freikörperkultur wirklich nur das unterstellt werden würde, dann gäbe es auch keinen Anlass, dass hierbei ein Problem be- oder entstünde. Entscheidend ist vielmehr, dass der Mensch sich dadurch auf gesellschaftlicher Ebene angegriffen fühlt, weil er es gewohnt zu sein scheint, sich für sich selbst zu schämen (ähnlich wie die einstige Scham, ein sexuelles Lebewesen zu sein)! Auf welche Weise ließe sich sonst erklären, dass gerade dort, wo dieser gesellschaftliche Nerv - die Scham vor sich selbst - sprichwörtlich durch die Thematisierung der Freikörperkultur blankgezogen wird, sich die größte Abwehrhaltung entwickelt? Bereits aus diesem Sachverhalt ergibt sich die folgenschwere ethisch-moralische Widersprüchlichkeit, dass ausgerechnet dort jemandem die Freiheit, zu sich selbst stehen zu können, genommen wird, wo sie für die grundsätzliche Möglichkeit, Respekt zu haben und Toleranz zu leben, unabdingbar ist. Mit diesen Erwägungen halten wir einen ersten Anhaltspunkt, was die Freikörperkultur bedeutet, fest: die Achtung seiner selbst und seiner Mitmenschen, nämlich dadurch, dass der Mensch sich nicht für sich selbst schämt!

Da es hier das Anliegen ist, zu vermitteln, was die Freikörperkultur ist bzw. bedeutet, und nicht, wie man zu einem FKKler wird, ist nun auf der Ebene derjenigen Menschen, die die Fähigkeit (wieder) erlangt haben, sich nicht für sich selbst zu schämen, zu fragen, weshalb die Freikörperkultur sich nicht ausgehend von diesen Menschen gesellschaftlich entfaltet und ausbreitet. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die Macht der Scham in ihrer eigentlichen Bedeutung: sich für etwas nicht mehr zu achten, weil man erkennt, etwas getan oder gesagt zu haben, was nicht mit dem eigenen Selbstverständnis übereinstimmt. Diese Scham zeigt seine Wirkung selbstverständlich auch beim FKKler.(2) Er geht nicht deshalb an einem schönen warmen Tag nicht unbekleidet spazieren, weil er sich etwa für sich selbst schämt (was laut Definition der Scham gar nicht möglich ist), sondern weil er sich für das schämt, was ihm andernfalls unterstellt werden würde.(3) Es liegt auf der Hand, dass die in der Öffentlichkeit etablierten Vorurteile gegenüber einer unbekleideten Person zu stark sind, als dass man es als rechtschaffener Bürger wagen könnte, diesen Fehl- und Vorurteilen mit gutem Beispiel entgegenzutreten. Die Folgen allerdings sind irrsinnig und verheerend: Die Scham davor, sich auf gesellschaftlicher Ebene die Freiheit zu nehmen, das Richtige zu tun, führt in der öffentlichen Wahrnehmung zur Pervertierung der Scham - nämlich zu der vor sich selbst! Das ist im Allgemeinen ein unbewusster Vorgang, der besonders bei Menschen greift, die sich nicht mit der Freikörperkultur befassen; und da es einem FKKler in der öffentlichkeit nicht anzusehen ist, dass er sich nicht deshalb bekleidet, weil er sich für sich selbst schämt, sondern weil er verhindern will, gehänselt, gemobbt, lächerlich gemacht oder als Perversling hingestellt zu werden, behauptet sich dieses Fehlverhalten (der Bekleidungszwang) in der Gesellschaft als ein vermeintlich richtiges. Mit diesen Erwägungen ist ein zweiter Anhaltspunkt, was die Freikörperkultur bedeutet, gegeben: Sie unterstützt die Selbstfindung und stärkt das Selbstbewusstsein, indem sie das (körperliche) Selbst nicht mit Scham besetzt.

Machen wir uns vor diesem Hintergrund klar, dass die überhäufung mit vermeintlichen sexuellen Hintergründen, die jeder von uns im Laufe der Erziehung und Sozialisation allein schon für den vagen (aber eigentlich natürlichen) Wunsch, zuweilen textilfrei zu sein, erfährt, die Selbstfindung erschwert oder gar verhindert. Dass dies so ist, zeigt die in der Gesellschaft vorhandene Verwobenheit von Sex und Nacktsein. Entsprechend verwundert es nicht, dass die Freikörperkultur in der öffentlichen Wahrnehmung nicht als das erscheint, was sie ihrem Wesen nach ist. Aber gerade deshalb ist es wichtig zu zeigen, dass mit dem Bekleidungszwang, der aus der Gleichsetzung von Sex und Nacktsein resultiert, ein „logischer Fehler” begangen wird, wenn man glaubt, dass sexuelle übergriffe in der Öffentlichkeit mittels Bedeckung der Geschlechtsteile verhindert würden. Schließlich befördert die textile Bedeckung die Konditionierung von Nacktsein und sexueller Erregung geradezu durch das gesellschaftlich legitimierte Zugeständnis, beim Sex nackt sein zu dürfen. Das hört sich vielleicht seltsam an, aber es zeigt, wie das fehlerhafte Bild bzw. das Vorurteil gegenüber der Freikörperkultur entsteht. Denn es ist ein lohnenswerter Gedanke - der ernster genommen und unbedingt mit der eigenen Erfahrung überprüft werden sollte(4) - , dass bei einer auf gesellschaftlicher Ebene gelebten Freikörperkultur eine solche Konditionierung, insbesondere eine Fokussierung auf die Geschlechtsteile, gar nicht erst entstünde und sexuell motivierte Übergriffe viel eher eingedämmt würden. Eines gilt es zum Zwecke des Verständnisses des hier Gesagten bewusst zu machen: Beides - Sex und Nacktsein - sind ganz natürliche menschliche Wünsche oder Triebe. Allerdings schafft der künstlich herbeigeführte und überzogene Zusammenhang von beidem sexuelle Begierden auf einem Gebiet, in dem eigentlich Werte wie Freiheit, Respekt und Toleranz ihren Platz haben sollten, so dass Raum für die Anerkennung und Achtung seiner selbst und des Andersdenkenden (5) sowie Raum zur Freiheit, sich selbst sein zu dürfen und andere sein zu lassen, geschaffen und gewahrt wird. Dabei würde Sex auch wieder zu seinen Quellen (sexuelle Erregung durch partnerschaftliche Nähe und Vertrautheit) zurückkehren, indem die momentan bestehende Konditionierung von Sex und Nacktsein auch von der Sexindustrie nicht ausgenutzt werden könnte, erhält doch beispielsweise die Pornographie gerade durch diese Gleichung ihren besonderen Reiz und hat sie ihren Nährboden darin, dass nackte Menschen in unserem Sinn sprichwörtlich pervers zur Schau gestellt werden. Wobei wir auf einen dritten Anhaltspunkt stoßen, was Freikörperkultur ist: Sie ist asexuell und richtet sich gegen sexuell motivierte Hintergründe.

Gleichwohl soll hiermit nicht geleugnet werden, dass Menschen, die unserem Schönheitsideal entsprechen, mehr Blicke auf sich ziehen als diejenigen, die ihm nicht entsprechen (was natürlich ist und sicherlich nicht an und für sich fragwürdig). Wichtig scheint es jedoch, sich diesbezüglich bewusst zu machen, dass es nicht die Geschlechtsteile sind, die dafür ausschlaggebend sind, sondern das Aussehen sowie die Art und Weise einer Person als Ganzes. Sie kann sich durchaus mit Kleidung sehr viel intensiver erotisch in Szene setzen, als es ihr ohne Kleidung bzw. textile Hilfsmittel möglich wäre. Widersprüchlich ist der Glaube, dass Kleidung anzügliche Blicke vermindere: Eine Person in sommerlicher (Bade-)Mode, die Verborgenes reizvoll unterstreicht, fordert es geradezu heraus, visuelle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Bedenkliche dabei ist es, dass tatsächlich davon ausgegangen wird, man sei durch die Kleidung geschützter oder sittsamer, moralisch noch fragwürdiger ist aber besonders die damit zusammenhängende Infragestellung des Menschen an sich. Denn hinter der widersprüchlichen textilen Zurschaustellung steht eine Person, die nicht nur aufgrund des gesellschaftlichen Zwangs zum Zusammenhang von Sex und Nacktsein beiträgt, sondern auch ihr Menschsein, d. h. ihre Menschenwürde abgesprochen bekommt, wenn sie sich aus ästhetischen Gründen vor ihren Mitmenschen verstecken muss. Wenngleich es hier nicht die Aufgabe ist, die Menschenwürde an sich philosophisch zu definieren, so soll doch zur Erläuterung ihrer Bedeutung in unserem Zusammenhang der Begriff der Autonomie aufgegriffen werden. Sie verleiht dem Philoso-phen Immanuel Kant zufolge dem Menschen Würde, indem er seine eigene Instanz ist, in der bzw. durch die er sich selbst seine Gesetze gibt.(6) Welches Fundament aber hat die eigene Instanz, welchen Wert hat sie, wenn der Mensch sich für sich selbst schämt und sich somit von sich selbst entfremdet hat? Derart autonom gegebene Gesetze müssen moralisch fehlerhaft sein! Somit haben wir einen vierten Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage, was die Freikörperkultur ist: Sie ist ein Teil von dem, was Menschenwürde begründet.

Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass das Bedürfnis des Nacktseins nicht einfach ausgelebt wird oder ausgelebt werden kann, während es doch ein wesentliches Element der menschlichen Existenz ist. Eine erste Antwort darauf haben wir freilich in der Selbstentfremdung des Menschen gefunden, die als unhinterfragte Gewohnheit mitsamt ihren Folgen wirkmächtig ist. Ich möchte aber noch eine weiter reichende Analyse vornehmen, um dieses Phänomen zu untersuchen. Der Gründer des Zentrums für Politische Schönheit (7) Philipp Ruch vertritt die These, dass es in totalitären und repressiven Staatssystemen mehr Menschen gebe, die für ihre überzeugungen unter Einsatz ihres Lebens einstehen, als es in demokratischen Gesellschaften der Fall sei, ohne jedoch eine befriedigende Erklärung für diese Beobachtung zu haben.(8) Ich möchte dieses Problem einmal unter Einbezug des Bedürfnisses nach öffentlich ausgelebtem Nacktsein, das bei vielen streitbaren Problemen nicht mitgedacht wird,(9) zu lösen versuchen. Zunächst ist zu bedenken, dass in repressiven Staatssystemen, in denen Menschenrechte missachtet werden, ein Einsatz gegen unterdrückte Grundbedürfnisse zwingender und damit auch „lohnender” ist, als es in demokratischen Staatssystemen möglich sein kann. Denn bei letzteren finden sich zwar ebenfalls eigentlich untragbare Missstände, wie beispielsweise der derzeitige Umgang mit Flüchtlingen, die, wie Ruch hervorhebt, für uns in der Europäischen Union keinen menschlichen Wert besäßen. Dies sehe man an den Grenzen und auf dem Seeweg, wo viele ums Leben kommen, obwohl dies mit den Mitteln der EU organisatorisch wie logistisch verhindert werden könnte. Dieser Unwille oder diese träge Gleichgültigkeit gegenüber Menschen in Not prangert Ruch zu Recht als eigentlich untragbare und die Menschenwürde beleidigende Menschenrechtsverletzungen an. Diese Art von Missständen aber - um den bestehenden Gedankengang fortzuführen - wird in unserer demokratischen Ordnung von vielen befriedigten Grundbedürfnissen, wie sie im Grundgesetz festgehalten sind, begleitet. Es liegt auf der Hand, dass der Wille, sich unter den gegebenen Rahmenbedingungen gegen Missstände aufzulehnen, nicht die Not erreicht, als Märtyrer gegen sie vorzugehen (einmal abgesehen davon, dass es in einem demokratischen Staat mit entsprechenden Grundrechten viel schwieriger ist, zu einem Märtyrer zu werden, gibt es doch oft legale Wege, sich auch mit legitimer Unterstützung gegen Missstände zu wenden, ohne dabei wie in repressiven Staatssystemen um sein Leben fürchten zu müssen).

Der Einsatz für die Freikörperkultur steht in einer Diktatur verständlicherweise nicht an erster Stelle, und in demokratischen Staaten verschwindet er im Dickicht der Scham für sich selbst, welche wiederum selbstwirksam allen Grund für ein solches Engagement übersieht oder drastischer ausgedrückt leugnet, sodass die Freikörperkultur nicht als ein Recht begriffen wird. In der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik haben wir ein seltenes Beispiel, in der die Mischung von Diktatur und Demokratie sich in einem derartigen Verhältnis befand, dass das Bedürfnis nach Nacktsein in der öffentlichkeit zur Entfaltung kam. Die Freikörperkultur entwickelte sich im Schatten der SED-Herrschaft auf der Grundlage demokratischer Werte. Das heißt, die Achtung vor sich selbst stärkte das kollektive Selbstbewusstsein als Ausdruck von Humanität im Volk und als gleichzeitige Kompensation repressiver Behandlung. Jedenfalls muss die Freikörperkultur als nachvollziehbare Folge erscheinen, wenn Grundbedürfnisse des Lebens zwar im Wesentlichen befriedigt, Grundrechte wie Meinungs- oder Glaubensfreiheit, die der Selbstfindung dienen, aber nur scheinbar gelten. Der einzi-ge Befreiungsschlag, der eine solche Situation erträglich macht und übrigbleibt, ist die Demonstration seiner Identität, für die man sich nicht schämt. Die Freikörperkultur kann somit als ein Ausdruck von Macht seitens des Volkes gedeutet werden, als etwas, das durch gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Mauerfall beigetragen hat. Umgekehrt lässt diese These erkennen, dass unhaltbare Menschenrechtsverletzungen bereits in der Unterdrückung der Freikörperkultur ihren Anfang nehmen. Denn solange der Mensch sich für sich selbst schämt und nicht zu seiner eigenen Menschlichkeit steht, sind Menschenrechtsverletzungen, besonders gegenüber anderen Kulturen, nur schwerlich zu verhindern. Sprich: Die Freikörperkultur müsste stärker als mögliche Hilfe zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen in die öffentliche Debatte miteinbezogen werden; die Aufdeckung von Missständen alleine ist zu wenig.(10) Damit ist uns ein fünfter Anhaltspunkt, was Freikörperkultur ist, gegeben: Sie ist ein Menschenrecht.

Die praktizierte Regelung in der ehemaligen DDR, nach der es überall dort, wo Nacktbaden nicht verboten ist, erlaubt ist, kehrte sich mit der Wiedervereinigung in ihr Gegenteil um, so dass Nacktbaden verboten ist, wenn es nicht ausdrücklich erlaubt ist.(11) Wenngleich die Freikörperkultur in der DDR eng mit den Bademöglichkeiten sozusagen als Sprungbrett zu ihrer gesellschaftlichen Legitimierung zusammenhing, lässt sie sich nicht auf solche Anlässe reduzieren. Beim Baden oder Schwimmen ist es lediglich am offensichtlichsten und daher am leichtesten zu vermitteln, dass das gänzliche Unbekleidetsein am meisten Sinn macht. Die Beschränkung der Möglichkeit der Freikörperkultur mit Bademöglichkeiten wird dem Wesen der Freikörperkultur nicht gerecht. Welchen Sinn sollte dies auch machen? Schließlich will die Nacktheit im Freien, in der Weitläufigkeit der Örtlichkeit, im warmen Wind in Sonne und Schatten unmittelbar im direkten Kontakt mit der Natur erfahren werden. Eine örtliche enge Bindung an Bademöglichkeiten stellt deshalb eine nicht nachvollziehbare Einschränkung dieser möglichen Erlebnisse dar. Wenn das Nacktsein am Wasser kein Problem ist und als freies und schönes Gefühl wertgeschätzt wird, warum sollte es dann fern von Gewässern anders sein? Da die Freikörperkultur sich als eine Lebensart in Harmonie mit der Natur versteht,(12) sollte das Recht auf Nacktsein örtlich nicht allzu sehr eingeschränkt werden. Nur so ist ein authentisches Naturerlebnis erfahrbar. Und zwar - darauf muss nochmals hingewiesen werden - nur dann in voller Authentizität, wenn man keine Angst vor eventuellen Passanten, die das Nacktsein nicht tolerieren, haben muss. Das wiederum enthält zwei Komponenten. Zum einen geht es um das offensichtliche Sich-fallen-lassen-Können in den Moment. Die weniger offensichtliche zweite und wichtigere Komponente stellt der Umstand dar, dass ein Gesehen-Werden im Sinne der Freikörperkultur (13) das Naturerlebnis erst komplettiert. Auch wenn das auf den ersten Blick ungewöhnlich oder seltsam klingt, so ist ein wahrhaftes Naturerlebnis doch darauf angewiesen, sich nicht für sich selbst zu schämen bzw. schämen zu müssen. Denn wenn die eigene Leiblichkeit, besonders in einem Moment des Naturgenusses, als etwas behandelt bzw. erachtet wird, das besser im Verborgenen bleibt, dann ist jegliche Möglichkeit einer echten Harmonie mit der Natur zerstört - weil der die Natur genießende Mensch selbst in diesem Fall offenbar nicht zu ihr gehört. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass die Freikörperkultur durch den verminderten Kleiderverbrauch und -gebrauch zumindest dann, wenn sie auf gesellschaftlicher Ebene gelebt würde, dazu führen würde, dass weniger gewaschen wird. Dies hätte den positiven Nebeneffekt eines geringeren Waschmitteleinsatzes und Stromverbrauchs. Dabei ergibt sich der Umweltschutz nicht allein aus diesem Sachverhalt, sondern sicherlich auch durch eine Sensibilisierung für den Umgang mit der Natur, die sich aus der Naturerfahrung ergibt. Diese Erwägungen zeigen einen sechsten Anhaltspunkt, was die Freikörperkultur ist: Sie ist naturverbunden.

Wenn die Luft oder die ganze Umwelt meine Kleidung ist, dann entsteht auch eine tiefere Verbundenheit mit der Natur, die dadurch eine größere Wertschätzung erhalten kann. Umgekehrt gewinnt die ästhetische Erscheinung des eigenen Körpers durch die Verbundenheit mit der Schönheit der Natur ebenfalls an Bedeutung. Im Falle permanenter Textilkultur hingegen führen die Verborgenheit des eigenen Körpers und die Abgrenzung des eigenen Selbst eher zur Vernachlässigung, weil man das, was man nicht preisgibt, auch nicht pflegen muss. Daher ist es ein Fehler, zu glauben, die Freikörperkultur sei bar aller Ästhetik. Die Vorliebe der Schönheit ist eine natürliche menschliche Eigenschaft. Doch im Unterschied zur gegenwärtig gelebten Scham für sich selbst grenzt die Freikörperkultur Menschen, die unserem Schönheitsideal nicht entsprechen, nicht aus, sondern begreift jeden vorbehaltlos als Mensch (der durchaus auch das Recht hat, nicht „schön” zu sein!). Die Motivation zur körperlichen wie seelischen Selbstpflege kann somit auf der Grundlage eines natürlichen Selbstwertgefühls wachsen. Spiel, Sport und Spaß gehören hier genauso dazu wie Erholung und Entspannung. Damit wird ein siebter Anhaltspunkt, was Freikörperkultur bedeutet, sichtbar: Sie ist sportliche Psychohygiene.

Es leuchtet vor diesem Hintergrund ein, dass die bestehenden FKK-Vereine, die sich im Grunde alle dem Breiten-, Freizeit- sowie Familiensport verschrieben haben, einen unverzichtbaren Bei-trag in unserer Gesellschaft leisten. Allerdings ist nicht zu rechtfertigen, dass sie dies eingegrenzt hinter blickdichten Zäunen leisten müssen - mit der Folge, im Dunst falscher Vorstellungen gesellschaftlich ins Hintertreffen zu geraten. Führen wir uns also vor Augen, wie eine Freikörperkultur, wie sie hier aufgezeigt wurde, auf gesellschaftlicher Eben aussehen könnte. Streng genommen gar nicht, weil es sie nicht gäbe. Das hat zwei Gründe: Zum einen liegt es daran, dass der Mensch weder zur permanenten Textilkultur noch zur permanenten Freikörperkultur geschaffen ist. Vielmehr ist die körperliche Konstitution ein Resultat evolutionärer Entwicklung und führt dazu, dass sich der Mensch je nach Bedarf be- und entkleiden kann.(14) Wenn man diesem Umstand begrifflich Rechnung tragen will, müsste eine neue Bezeichnung für diese Lebensweise gefunden werden. Deutlich ist aber, dass die Textilkultur die Freikörperkultur nicht verdrängen und unterdrücken sollte, wie es gegenwärtig der Fall ist. Zum anderen verweist dieser Sachverhalt wiederum auf den Geist der Freikörperkultur: Sie akzeptiert beides bzw. erkennt beides als notwendig mit dem Menschen verbunden an, weshalb sie auch niemals den Respekt Andersdenkenden gegenüber verliert,(15) die aus welchen Gründen auch immer eine Hemmung in sich tragen, in der Öffentlichkeit unbekleidet zu sein. Allerdings gibt es eben auch keinen ethisch nachvollziehbaren Grund, dass dies „FKKlern” verwehrt wird. Selbstverständlich bestehen nachvollziehbare Grenzen, in denen das Nacktsein (wie zuweilen auch das Bekleidetsein) nicht angebracht ist, z. B. überall dort, wo das Menschenaufkommen zu groß und/oder zu eng ist, um ungewollten Berührungen aus dem Weg gehen zu können. Ansonsten sollte es denselben Regelungsmechanismen unterstehen, wie es auf anderen Gebieten des Zusammenlebens auch der Fall ist, beispielsweise im Straßenverkehr mit seinen zahlreichen unterschiedlichen Teilnehmern, die sich schließlich auch gegenseitig respektieren und tolerieren müssen. Und zuweilen hat der eine, ein anderes Mal der andere mehr Raum.

Die Freikörperkultur redet nicht nur über Respekt, sie respektiert andere und anderes;
sie redet nicht nur über Freiheit, sie lebt und gewährt Freiheit; sie redet nicht nur über
Toleranz, sie toleriert Grenzen; sie redet nicht nur über Integration, sie integriert alle
Menschen; sie redet nicht nur über Humanismus, sie ist humanistisch.


Freiburg, März 2016

 



(1) - Manche FKKler geben vor, dies nur unter ihresgleichen und hinter blickdichten Zäunen ausleben zu wollen. Die Analyse der Freikörperkultur wird aber zeigen, dass diese Haltung ein in der Konfrontation mit der momentan gelebten Wirklichkeit erzwungener Irrglaube ist und damit eher einen Selbstschutz gegenüber möglichen Anfeindungen „von außen” darstellt.

(2) - Ich bitte hier wie im Folgenden die ausschließliche Wahl grammatikalischer männlicher Formen zu entschuldigen. Sie dienen lediglich der besseren Lesbarkeit.

(3) - Vgl. Fußnote 1.

(4) - Mit der eigenen Erfahrung meine ich das Ausprobieren des Nacktseins im Sinne der Freikörperkultur. Denn ich bin davon überzeugt, dass das Wesen der Freikörperkultur nicht allein auf intellektuellem Wege vermittelt oder verstanden werden kann.

(5) - Die Freikörperkultur schließt Anhänger permanenter Textilkultur nicht aus, während es andersherum leider der Fall ist. Näheres zu dieser Anmerkung greife ich am Schluss des Essays auf.

(6) - Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.

(7) - Es handelt sich um eine Berliner Künstlergruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verquere und obszöne Machenschaften der Politik mit provozierenden Aktionen zu entlarven (Homepage: www.politicalbeauty.de).

(8) - Nachzuhören als Podcast auf der Internetseite des WDR5 (Das philosophische Radio).

(9) - Vgl. Essay Freiheit, Respekt, Toleranz - und FKK.

(10) - Dies ist im Übrigen ein weiterer Beweis für die Tabuisierung der Freikörperkultur auf gesellschaftlicher Ebene. Denn während Ruch einen radikalen Humanismus im Sinne eines vehementen Einsatzes für Menschenrechte propagiert (indem man sich mit seinen überzeugungen hartnäckig aller Repressivität entgegenstellt), klammert er gerade das aus, was Humanismus und insbesondere einen "radikalen" (lat. radix - Wurzel, übertr. Ursprung) begründet - nämlich die Freikörperkultur. (Eine Anfrage meinerseits, die Freikörperkultur als einen möglichen Lösungsansatz in Betracht zu ziehen, blieb jedenfalls erwartungsgemäß unkommentiert.) Die Folge ist wieder dieselbe wie bei allen öffentlichen Diskussionen zur Bekämpfung humanistischer Missstände: Das Problem wird nicht an der Wurzel gepackt, und es wird mehr debattiert als gehandelt.

(11) - Vgl. Die Geschichte der Freikörperkultur (PDF-Dokument, DFK-Homepage).

(12) - Teil der Definition von Freikörperkultur des DFK (vgl. Titelseite).

(13) - Vgl. Essay: In der Freikörperkultur wollen gesehen zu werden ist nicht gleichzusetzen mit sich zeigen wollen.

(14) - Vgl. Essay: Die Selbstentfremdung des Menschen am Beispiel des Bekleidungszwangs.

(15) - Teil der Definition von Freikörperkultur des DFK (vgl. Titelseite).

Foto © Michael Otto

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