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Sexualität in der Freikörperkultur

Ein philosophischer Essay zur Freikörperkultur

von Uli Uschberg

Es ist eine konträre und prekäre Situation: Während auf gesellschaftlicher Ebene die Sexualität längst aus der Tabuzone gehoben wurde, hält sie sich weiterhin darin bei den Anhängern der Freikörperkultur. Das ist zwar nicht der Fall, insofern die FKKler sich im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Sozialisation bewegen, sehr wohl aber bei der Ausübung der Freikörperkultur im Verein bzw. unter sich. Und während umgekehrt das Unbekleidetsein in der Freikörperkultur eine gelebte Selbstverständlichkeit darstellt, wird es wiederum auf gesellschaftlicher Ebene als sexuell belastetes Ansinnen tabuisiert. Wenn wir uns diese konträre Lage vor Augen halten, ist nachvollziehbar, dass die Anhänger der Freikörperkultur penibel darauf bedacht sind, alles auch nur im entferntesten Sexuelle von sich zu weisen - ist die Gefahr doch zu groß, durch irgendwelche (wenn auch nur vermeintliche) Vorkommnisse belastet zu werden. Schließlich wird es argwöhnisch beäugt, dass FKKler nackt sein wollen und dies dann auch immer wieder sind, während zugleich die Öffentlichkeit nicht beachtet, dass die Freikörperkultur ihrem Wesen nach nichts mit Sexualität zu tun hat (1) - was selbstverständlich nicht heißt, dass der FKKler selbst als Mensch asexuell ist.

So klar dies ist, so wichtig scheint es dennoch zu sein, diesen Sachverhalt auf einer tieferen Ebene zu durchleuchten: Sexualität ist als solche in der Freikörperkultur nicht anders vorhanden als in jedem anderen Lebensbereich mit permanenter Textilbedeckung auch. Denn selbst ein Mensch, der dem Zölibat verpflichtet ist oder sich ähnlichen Beschränkungen unterworfen hat, ist natürlich ein sexuelles Wesen. Doch gerade im Hinblick auf die geringe Akzeptanz der Freikörperkultur in der Öffentlichkeit wird die natürliche Sexualität des Menschen zum ungewollten und oft unbewussten Stolperstein, wenn nicht gar zur unüberwindlichen Hürde für die Anhänger der Freikörperkultur. Denn während FKKler das Nacktsein als Ausleben eines keineswegs sexuellen Bedürfnisses verstehen, werden in unserer Gesellschaft insgesamt unbedeckte Geschlechtsteile per se mit Sexualität in Zusammenhang gebracht. Es zeigt sich hiermit deutlich, warum die Anhänger der Freikörperkultur sensibler darauf achten müssen, in dieser Hinsicht nicht aufzufallen. Die Tabuisierung von Sexualität innerhalb der Freikörperkultur erscheint somit als aus gesellschaftlichem Druck erwachsenes Phänomen und von daher verständlich; die Konsequenz davon ist, dass sich die Thematik in der Freikörperkultur nicht so einfach enttabuisieren lässt.

Dies bedeutet für die Anhänger der Freikörperkultur ein folgenschweres Dilemma: Sie sind - vor allem aufgrund des falschen Bildes von FKK in unserer Gesellschaft und des daraus resultierenden öffentlichen Drucks (2) - dazu gezwungen, ganz normale oder vielmehr ganz natürliche sexuelle Vorgänge, die sich körperlich äußern, im Falle des zeitgleichen Unbekleidetseins zu unterdrücken. (3) Die Schwierigkeit besteht freilich darin, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Denn wenn man dem Wesen der Freikörperkultur Rechnung tragen will, muss man anerkennen, dass doch einer ihrer zentralen Grundzüge gerade darin besteht, natürliche Vorgänge des Körpers nicht zu problematisieren. Welchen Sinn macht die Freikörperkultur, wenn man das, was körperlich ist, zu verstecken sucht? Diese eigenartige Situation ist dem misstrauischen Blick der Gesamtgesellschaft geschuldet, und gerade weil sich hier ein eklatanter Widerspruch zeigt, wird Sexualität innerhalb der Freikörperkultur erklärlicherweise auch tabuisiert. Doch zu tabuisieren, was natürlich ist, erscheint zumindest fragwürdig. Deshalb möchte ich es hier einmal wagen, nicht auf gesellschaftlicher Ebene aufzuklären, sondern innerhalb der Freikörperkultur selbst! Denn schließlich sind hier dieselben Mechanismen am Werk wie in der Gesellschaft außerhalb der Freikörperkultur auch (in der das Nacktsein konditionell mit Sex in Zusammenhang steht und in der Öffentlichkeit tabuisiert wird). Sie führen dazu, dass jede sexuelle Regung des Körpers voller Scham - und Angst? - als peinlich, deplatziert oder unanständig verpönt wird.

Um Missverständnissen vorzubeugen, erscheint es mir wichtig, explizit darauf hinzuweisen (für den Fall, dass es nicht ohnehin bereits klar geworden ist), dass dieser Essay derlei sexuelle Regungen in der Freikörperkultur keinesfalls stärken möchte (und selbstredend schon gar nicht die Ausübung partnerschaftlichen Geschlechtsverkehrs thematisieren will - was auch keine FKK-spezifische Fragestellung und von daher fehl am Platz wäre). Eine sachlich korrekte Auseinandersetzung mit der Sexualität im Bereich des Wunsches nach Nacktheit zielt auf den Umgang mit sexuell bedingten Zuständen oder Äußerungen des Körpers innerhalb der Freikörperkultur, insoweit sie sich nicht von jedem Menschen einfach ausschalten oder verbergen lassen, d. h., insofern sie ganz natürliche Prozesse sind.

In eine folgenschwere Sackgasse ist vor diesem Hintergrund die Verbreitung und authentische Repräsentation der Freikörperkultur geraten. So herrscht in unserer Gesellschaft das Bild vor, dass derjenige, der die Freikörperkultur ausprobieren möchte, bereits FKKler sein müsse. Tatsächlich kann gerade von Ungeübten, die das Unbekleidetsein ausprobieren möchten, nicht erwartet werden, im Zuge bloßen Unbekleidetseins in der öffentlichkeit bzw. im Verein ohne sexuellen Reiz zu bleiben. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Sexualität in enger Abhängigkeit von der Lebenslage des jeweiligen Menschen steht. So dürfte sich vor allem bei männlichen Jugendlichen kaum vermeiden lassen, dass sie nackt unter anderen ohne Erektion bleiben, solange in ihnen die gesellschaftliche Sozialisierung, die genau diesen Zusammenhang von Nacktsein und gleichzeitigem Sehen sowie Gesehenwerden in einen sexuellen Kontext stellt, wirkmächtig ist. (4) Ich habe bereits von vielen Menschen gehört, die die Freikörperkultur eigentlich gerne ausprobieren würden. Die Gewissheit gerade vieler der jungen Männer unter ihnen, sofort ein erigiertes Glied zu bekommen, sobald sie vor anderen ihre Hose ausziehen, hält sie wiederum aus Scham und Angst vor der Unterstellung eines sexuell motivierten Ansinnens davon ab. Hätte jemand dennoch den Mut, so ist wiederum unsere Gesellschaft geradewegs und unreflektiert darauf getrimmt, darin sofort einen verwerflichen sexuellen Bezug zu erkennen. Dabei ist eine solche Unterstellung selbst übergriffig und ethisch fraglich. (5) Denn es gibt viele Ursachen oder Möglichkeiten, ein sexuelles Gefühl oder einen Reiz zu erfahren, ohne dass dies aus pervers motivierten Absichten heraus geschieht; im Falle eines sexuell motivierten Hintergrunds ist aber gerade dies oft der besagten Konditionierung von Nacktsein und Sex auf gesellschaftlicher Ebene geschuldet.

Wenn wir uns diese Verstrickung vor Augen halten, zeigt sich gerade in der genannten Konditionierung die eigentliche perverse Reduzierung des unbekleideten Menschen auf ein Sexobjekt, indem er schon allein durch seine menschliche Erscheinung für sexuelle Reize sorgt oder gar verantwortlich gemacht wird. Dieser fatale Sachverhalt erweist sich als einer, der nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der Anhänger der Freikörperkultur unbewusst wirkt. Umso mehr ist es für einen menschlicheren Umgang untereinander ratsam, sich dieser Thematik auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu stellen - auch wenn ich hier primär die Anhänger der Freikörperkultur in die Pflicht nehmen möchte, Neulingen die notwendige Zeit zu geben, sich aus der dargelegten verqueren Verstrickung von Nacktsein und Sexualität zu lösen. Wenn beispielsweise - um einen Tipp für die Praxis zu geben - jemand eine Erektion nicht verhindern kann, so sollte man diese Person deshalb nicht gleich diskreditieren. Denn wenn die Erektion ihren Grund in der Ungeübtheit und in der mangelnden Erfahrung mit der Freikörperkultur hat, ist sie für den Betroffenen schon unange-nehm genug, was sich ja auch in dem Bestreben zeigt, sich möglichst schnell der peinlichen Situation zu entziehen. Dass die Sexualität des Menschen aber in der Freikörperkultur peinlich ist und totgeschwiegen wird, anstatt sie als dem Menschen zugehörig anzusehen, kann nicht der richtige Weg sein! Solche Situationen kommen, wenn überhaupt, nur sehr selten vor, aber gerade dies kann nicht beruhigen, zeigt sich doch daran, dass diejenigen, die im Wissen, unbekleidet ein sexuelles Gefühl oder gar eine Erektion nicht verbergen zu können, in der Regel das Nacktsein unter anderen erst gar nicht ausprobieren.

Ein erster Schritt für eine gesunde und menschliche Freikörperkultur wäre daher die Anerkennung der Sexualität auch bzw. gerade beim gemeinsamen Nacktsein, ohne Scheu oder Angst nach außen hin. Denn schließlich kann es kein Verbrechen sein, sexuelle Gefühle oder Reize unter Umständen nicht unter Kontrolle zu haben. Oft reicht es beispielsweise bei jungen Männern bereits aus, auf dem Bauch zu liegen - allein der Druck des Körpergewichts auf den Penis kann bereits eine Erektion hervorrufen. Verhält sich nun der Betroffene ansonsten gemäß den Normen der Freikörperkultur, richtiger gesagt gemäß den Normen des gesellschaftlichen Miteinanders überhaupt, sollten geübtere FKKler ihm verständnisvoll begegnen, so dass er sich in der Gewissheit wähnen kann, sich dafür nicht schämen zu müssen. Das ist nun leider ein Ideal, das, wie oben gesagt, in der Regel erst gar nicht zum Zuge kommt, weil sich diejenigen, die sich für die Freikörperkultur interessieren, nicht trauen, das Nacktsein unter anderen auszuprobieren. Daher bleiben auch viele Jugendliche der Freikörperkultur fern bzw. kehren ihr den Rücken zu, sobald sie in die Pubertät kommen. Niemand weiß, wie er (oder sie), sei es als Betroffene(r) oder als jemand, der von einem solchen Vorfall mitbekommt, mit einer solchen Situation umgehen soll - darüber wird schlichtweg geschwiegen.

Die fehlende Thematisierung und die damit einhergehende Ungewissheit sollten dem natürlichen Wunsch, in der Öffentlichkeit unbekleidet zu sein, jedoch nicht entgegenstehen! (6) Vielmehr müssen Anlaufstellen eingerichtet werden, die den Menschen mit Hang zur Freikörperkultur mit Beratung und Hilfe zur Seite stehen. Denn ich habe noch keinen nachvollziehbaren Grund gehört, dass es sich mit diesem Sachverhalt im Grunde anders verhalten soll als mit der Notwendigkeit öffentlicher Hilfsangebote für andere Randgruppen. Der Drang nach Nacktheit ohne sexuellen Hintergrund ist, auch wenn dies in der öffentlichkeit nicht gewürdigt wird, weit verbreitet. Die Scham hingegen ist aufgrund der erwähnten Umstände groß. Im Wesentlichen haben also Menschen, die gerne unbekleidet sind und dies auch gerne ausleben würden, ohne dafür kriminalisiert zu werden, ähnliche Probleme in der Gesellschaft, selbstbewusst sich selbst finden zu können und ein eventuelles Coming-out zu wagen, wie Menschen mit sexuellen Neigungen, die nicht den vorherrschenden gesellschaftlichen Nor-men entsprechen. Aus diesem Grund sollte dem Werben für mehr Toleranz auf öffentlicher Ebene im Hinblick auf die Freikörperkultur dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt werden, wie dies beispielsweise im Bereich der Homosexualität der Fall ist.(7)

Diese Erwägungen machen eine Konsequenz für das Selbstverständnis der Freikörperkultur deutlich: Was die FKKler auf gesellschaftlicher Ebene bemängeln - die fehlende Einsicht, dass das Nacktsein etwas völlig Natürliches und Menschliches ist und der Wunsch, nackt zu sein, nicht diskriminiert und kriminalisiert werden darf -, müssen sie dieser Logik folgend auch sich selbst vorhalten lassen. Sie müssen erkennen, dass auch die Sexualität eine völlig natürliche (und notwendige) Komponente des Menschen ist, die nicht tabuisiert werden darf - schon gar nicht in der Freikörperkultur! Denn alles Natürliche, das (gesellschaftlich) unterdrückt wird, hinterlässt negative Spuren und sucht sich schlimmstenfalls Ventile mit Gewalt.

Vor diesem Hintergrund werfen wir noch einen Blick auf das Phänomen des Exhibitionismus. (8) Diesen halte ich für ein Ventil des von der Gesellschaft unterdrückten Wunsches nach Nacktsein. In Verbindung mit der sozialisierten Scham für sich selbst und der gesellschaftlich konditionierten Gleichsetzung des Nacktseins mit sexueller Begierde erwächst dar-aus eine pervertierte Form der Sexualität. Denn wenn diese bestehende gesellschaftliche Moral auf einen Menschen trifft, der sich im Grunde aus dieser Moral befreien will, aber nicht die intellektuellen Fähigkeiten besitzt, sich diese Umstände bewusst zu machen und damit andere Wege aus der Misere zu suchen, kulminiert dies in einem psychosomatischen sexuellen Reiz, der in der öffentlichen Zurschaustellung des Geschlechtsteils oder gar in der Masturbation vor anderen seine Befriedigung findet: Das Präsentieren des Genitals wird zur vermeintlichen Befreiung aus dem gesellschaftlich aufgezwungenen Gefühl der (unbewussten) Entfremdung des eigenen Selbst. (9) Der Grund dafür ist gerade die Behandlung des Geschlechtsteils in unserer Gesellschaft als etwas Sonderbares - etwas, wofür man sich zu schämen habe. Wenn wir nun ehrlich auf den gesellschaftlich erzeugten Zusammenhang von Nacktsein und sexueller Erregung unter gleichzeitiger Tabuisierung des natürlichen Wunsches nach Nackt-sein, ohne sich dafür schämen zu müssen, schauen, dann erscheint die hier vorgebrachte These als eine mögliche und, wie ich glaube, plausible Erklärung des Exhibitionismus.

Meiner Ansicht nach zeigt diese These auch die Verantwortung für die Freikörperkultur auf: Es geht darum zu lernen, authentisch zu sich selbst zu stehen und nicht aus Angst vor un-begründeten Anschuldigungen selbst wiederum eines der natürlichsten Dinge des Menschen, nämlich seine Sexualität, zu tabuisieren. Denn wahrscheinlich gäbe es in unserer Gesellschaft weit weniger sexuelle Straftaten, wenn der Mensch insgesamt auf gesellschaftlicher Ebene einen natürlicheren Bezug zu sich selbst hätte. Viele natürliche Triebe und Wünsche müssten dann nicht in pervertierter Form in Erscheinung treten. Und schließlich käme der Mensch auch bei partnerschaftlichem Sex an einen tieferen Punkt sexuellen Genusses, der nicht allein schon durch bloßes Nacktsein vorzeitig und oberflächlich ausgelöst wird.

 



(1) - Vgl. die vorangegangenen FKK-Essays (bes. Was ist FKK?).

(2) - Nicht vergessen werden darf, dass sich dieser Druck auch bei den Anhängern der Freikörperkultur auswirkt. Denn wenn innerhalb eines FKK-Geländes jemand mit einer sichtbar gewordenen sexuellen Erregung erschiene, so würde darauf wahrscheinlich ähnlich reagiert werden wie in der öffentlichkeit.

(3) - Dies stellt für einen Menschen, der das Unbekleidetsein vor anderen gewohnt ist, auch kein Problem dar, weil er einen sexuellen Reiz gar nicht erst unterdrücken muss, da bei ihm Nacktsein nicht automatisch mit sexueller Erregung verbunden ist (vgl. dazu bes. das Essay In der Freikörperkultur gesehen werden wollen ist nicht gleichzusetzen mit sich zeigen wollen).

(4) - Vgl. das Essay In der Freikörperkultur gesehen werden wollen ist nicht gleichzusetzen mit sich zeigen wollen.

(5) - Das gilt nicht generell, eine Pauschalisierung aber wird den sexuellen Trieben, denen der Mensch unterworfen ist, nicht gerecht.

(6) - Bewusst gehe ich hier über die Grenzen eines FKK-Vereins hinaus. Vgl. hierzu das Essay In der Freikörperkultur gesehen werden wollen ist nicht gleichzusetzen mit sich zeigen wollen.

(7) - Vgl. dazu das Essay Freiheit, Respekt, Toleranz - und FKK.

(8) - Eigentlich hat die folgende These ihren Platz in einer Fußnote an anderer Stelle. Da aber viele Menschen in unaufgeklärter Weise glauben, dass Exhibitionismus zumindest teilweise mit der Freikörperkultur in Verbindung stehe, scheint es hilfreich zu sein, dieses Phänomen in den eigentlichen Textkorpus aufzunehmen.

(9) - Zum besseren Verständnis dieser These bieten die vorangehenden Essays einen wichtigen Hintergrund.

Foto © Michael Otto

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