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Die Selbstentfremdung des Menschen am Beispiel des Bekleidungszwangs

Ein philosophischer Essay zur Freikörperkultur

von Uli Uschberg

Das Streben nach Freiheit ist ein Bedürfnis natürlichen Ursprungs. Befriedigen wir es nicht, geht damit eine Entfremdung von uns selbst einher. Ein solcher Zustand der Entfremdung wiederum vermag dem Bedürfnis nach Freiheit nicht gerecht zu werden. Natürlichen Ursprungs ist das Bedürfnis nach Freiheit, weil sich – allgemein gesprochen – jedes Wesen an seinem spezifischen gewordenen Sein orientiert. So fühlt sich ein Wesen frei, wenn es seine Bedürfnisse in ausreichendem Maße ausleben kann. Vereinfacht ließe sich sagen, dass ein Fisch im Wasser, ein Biber im und am Wasser und eine Ente im und am Wasser sowie in der Luft frei lebt. Entziehen wir einem dieser Lebewesen eine Bedingung zur Auslebung seiner natürlichen Bedürfnisse, entspricht es nicht mehr oder nicht mehr im vollen Umfang seinem eigenen Wesen bzw. Sein (und empfindet Unfreiheit). Dasselbe gilt in Bezug auf seine jeweilige leibliche Ausstattung wie Schuppen, Fell oder Federn. So würde etwa das Fehlen oder eine Veränderung beispielsweise des Fells beim Biber zu erheblichen Einbußen in seiner Auslebung der Freiheit führen, d. h., es käme zu einem Fremdwerden gegenüber seinem von Natur aus in die Welt geworfenen Dasein. Der Biber würde seinem natürlichen Sein entfremdet (werden).(1)
Wir können daher festhalten, dass das Streben nach Freiheit tatsächlich ein aus einem natürlichen Ursprung erwachsenes Bedürfnis ist. Anders ausgedrückt: Das Bedürfnis nach Freiheit entsteht von Natur aus, d. h. ohne eigenes Zutun, aus dem individuell gewordenen Sein.

Zur Verdeutlichung können wir den Fall betrachten, eines der oben genannten Tiere würde sich für einen Teil seiner leiblichen Ausstattung genieren (ein seltsamer Gedanke, wenngleich bezogen auf den Menschen nicht abwegig). Die Auswirkungen wären offensichtlich und liegen klar zutage: In jedem Fall würde eine Entfremdung vom eigenen Wesen stattfinden und das dem jeweiligen Lebewesen zugrundeliegende Bedürfnis nach Freiheit nicht (vollständig) befriedigt werden, weil die Infragestellung eines Körperteils dem Freiheitsdrang hinderlich wäre. Hinsichtlich der örtlichen Fortbewegung wären das zum Beispiel je nach individuell gewordenem Sein die Beine, die Flügel oder etwa die physischen Voraussetzungen der Schlange, sich zu schlängeln. Es liegt auf der Hand, dass es eine Einschränkung bedeutete, sich seiner Fortbewegungsorgane (oder -technik) zu genieren.

Ausgehend von diesen Erwägungen ist es ein kleiner Schritt, den Gedanken der Entfremdung beim Menschen zu untersuchen – der sich ja ganz offensichtlich für seine Genitalien geniert, die doch zugleich die wesentlichsten Organe seiner Existenz und seines Fortbestandes sind.(2) Diese Schambesetzung beleuchten wir eingehender, indem sich leicht polemisch fragen lässt: Was ist am Nacktsein Anstößiges? Oder richtiger gefragt, um das Wesentliche der Frage zum Vorschein zu bringen: Was bitte ist am Menschsein Anstößiges? Denn wir müssen zugeben, dass kein anderes Lebewesen seine Artgenossen als anstößig empfindet, nur weil sie keine Kleidung tragen. Der Vorteil des Menschen ist doch gerade, dass er sich je nach Bedarf und Situation ankleiden kann. Dieser Sachverhalt legt aber auch nahe, dass er sich je nach Bedarf und Situation auch wieder entkleiden kann – und es daher als unnatürlich erscheint, wenn er dies nicht tut. Insofern widerstrebt das Genieren für einen Körperteil dem natürlich gewordenen Sein und dem damit verbundenen Streben nach Freiheit. Diese Erkenntnis halten wir am besten mit einer Abwandlung eines berühmten Ausspruchs Immanuel Kants fest, da in ihr gleichzeitig die Lösung des Problems steckt, die es anschließend zu entfalten gilt. Frei nach Kant also ließe sich feststellen: „Freikörperkultur ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Selbstentfremdung. Selbstentfremdung ist das Unvermögen, sich selbst zu sein.”(3)

Freikörperkultur als Lösung? Nach der bisherigen Erläuterung des Sachverhalts muss dies durchaus als ein adäquater Ansatz erscheinen! Betrachten wir daher ein paar (evolutionäre) Kriterien, die für die Freikörperkultur sprechen:
Erstens finden sich in der Haut des Genitalbereichs sowie der Genitalien selbst beim Menschen dieselben Funktionen wie in der Haut des restlichen Körpers. Wenn es nun von Natur aus vorgesehen wäre, die Haut des Genitalbereichs dem Sonnenlicht nicht auszusetzen, dann könnte dort auch keine Melaninbildung vonstattengehen. Denn aus evolutionärer Sicht können wir davon ausgehen, dass sich etwas für oder gegen etwas nur dann entwickelt, wenn dies auch tatsächlich einem Lebewesen nützt (z. B. Hautbräunung oder Fell gegen UV-Strahlen). Besonders gut können wir das im Falle der Hautbräunung beispielsweise bei Menschen afrikanischer Abstammung mit sehr hohem Melaningehalt sehen. Bei ihnen findet sich genetisch bedingt an den Handinnenflächen sowie an den Fußsohlen von Geburt an weniger Melanin, da es an diesen Stellen schlichtweg weniger benötigt wird. Im Genitalbereich allerdings ist derselbe Melaningehalt wie an den übrigen Stellen des Körpers vorhanden.

Zweitens ist die Köperbehaarung im Laufe der Evolution wohl nicht zurückgegangen, um sich für sich selbst zu genieren, sondern vielmehr um in bestimmten Situationen möglichst unbedeckt zu sein – dann aber auch wieder, um sich nach Bedarf wieder etwas anziehen zu können. In diesem Zusammenhang ist Schamhaar im Übrigen kein Indiz für das Bedeckenmüssen irgendwelcher Körperteile. Denn es gibt auch Brusthaar, Barthaar, Kopfhaar etc. Bei allen Körperteilen mit vermehrtem Haarwuchs ist eher von einer regulierenden Funktion als von einer aus Scham bedeckenden Funktion auszugehen, weshalb der Begriff Schamhaar eine irreleitende Bezeichnung ist.

Drittens ist bei sportlichen Aktivitäten und entsprechender Witterung die atmungsaktivste Variante die gänzlich unbekleidete. Die besten und teuersten atmungsaktiven Textilien machen ab einer bestimmten Temperatur und Witterung keinen Sinn mehr. Das Gleiche gilt auch für kurze und leichte Kleidung, sei es beim Sport oder in Ruhephasen. Denn beim Schwitzen ist es aus evolutionärer Sicht sicherlich nicht vorgesehen, dass bei der Kühlung des Körpers Textilien an der Haut kleben.(4)

Viertens ist das Selbstbewusstsein eine evolutionäre Entwicklung, die unsere eigene Leiblichkeit mit einschließt. Wirklich selbstbewusst können wir demgemäß allenfalls nur dann durchs Leben gehen, wenn wir uns so annehmen, wie wir sind, und wenn wir uns nicht für einen Körperteil genieren. In diesem Zusammenhang lässt sich der Bekleidungszwang geradezu als eine Diskriminierung der Person ansehen, denn auch wenn es uns inzwischen klar geworden ist, sei es noch einmal betont: Dass wir in unserer Gesellschaft nicht wir selbst sein dürfen, diskriminiert das eigene Sein bzw. das eigene Selbst auf ungeheuerliche Weise! Wie sehr diese Diskriminierung in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit ist, zeigen Redewendungen in Aussagen wie „(Sie wollte) einen Blick auf meine Persönlichkeit werfen. Das hört sich komisch an, als würde jemand Fremdes ankündigen, mir die Kleider vom Leib reißen zu wollen.(5) Wir Menschen neigen dazu, uns als „nackt“ zu bezeichnen, wenn wir uns anderen gegenüber als schutzlos empfinden oder ihnen gegenüber schämen, so wie wir uns umgekehrt unbehaglich und schutzlos zu fühlen, wenn wir keine Kleidung tragen. Wir sind ohne textile Verhüllung aber nicht nackt, sondern lediglich ohne Kleidung.(6)

Betrachten wir den Begriff „nackt” bzw. das „Nacktsein” etwas genauer: Nackt kann im eigentlichen Sinne nur sein, wem etwas zu seiner natürlichen leiblichen Ausstattung Gehörendes fehlt, beispielsweise einer Schildkröte der Panzer, einem felltragenden Tier das Fell oder einem schuppentragenden Tier die Schuppen. In diesen Fällen könnten wir zu Recht sagen, dass diese Tiere „nackt” seien: Sie sind bloßgestellt, insofern sie eines wichtigen Teils ihrer von Natur aus gegebenen Schutz- und Funktionsausstattung beraubt sind. Nacktsein meint in diesem Sinne also verletzlich sein. Dem sogenannten „nackten” Menschen jedoch fehlt nichts, wenn er keine Kleidung trägt, weshalb er in diesem Fall nicht im natürlichen Sinne, sondern allenfalls im konventionellen Sinne nackt (und eben auch nur gemäß den konventionellen Normen „ungeschützt“) ist.(7) Denn der Mensch ist von Natur aus kein Kleidung tragendes Tier, dem gegebenenfalls die Kleidung fehlt, sondern unserem Beispiel gemäß ein Kleidung an- und ablegendes Tier. Noch klarer tritt dieser Sachverhalt zutage, wenn wir diesen Gedankengang auf die Behausung, deren Schutz der Mensch bedarf, übertragen. Denn es wird wohl niemand bestreiten, dass eine Zwangsbehausung einem Gefängnis gleichkommt, und behaupten, dass ein Mensch außerhalb seiner schutzbietenden Behausung nackt sei. Nackt im hier verstandenen Sinn kann ein Mensch nur sein, wenn ihm wie bei den oben genannten Tieren etwas zu seiner natürlichen leiblichen Ausstattung Gehörendes fehlt, wie z. B. die Hände.(8)

Schließlich verleiht das gänzliche Unbekleidetsein das Gefühl der Freiheit im gleichzeitigen Einverständnis mit sich selbst. Denn dass wir uns nicht von uns selbst entfremden, wenn wir uns nicht für etwas Naturgemäßes an bzw. von uns genieren, spricht für sich. Erfahrenen Verfechtern der Freikörperkultur ist es unbegreiflich, irgendwelche Körperteile zwanghaft verdecken und verstecken zu müssen, da sie es als eine irrationale Selbstentfremdung empfinden. Um uns in die Situation eines solchen Menschen einzufühlen, betrachten wir folgendes Gedankenprotokoll:
Es ist ein wunderschöner Sommermittag. Ich bin hier gerade auf einem Waldweg, dicht bewachsen, richtig überwuchert von sattgrünen Bäumen, der Weg liegt größtenteils im Schatten, überall kleine Sonnenflecken, die durch das Laub scheinen, ja, eine äußerst angenehme Temperatur, richtig anmutig. Das Schönste, das ich mir hier jetzt vorstellen könnte, ist es, dies am ganzen Körper zu spüren. Wie mich der Wind überall am Körper streift und ich mich so richtig frei in dieses Erlebnis hineinwerfen kann. Das wünschte ich mir! – Aber leider nicht möglich. Ich muss immer Angst haben, dass irgendjemand des Weges kommt, einen als pervers … – Ja, da vorne kommt auch schon jemand. – Wenn ich hier jetzt unbekleidet wäre, was wäre dann? Würden die Leute schockiert stehen bleiben? Was würden sie tun? Wie sollte ich mich verhalten? Wahrscheinlich normal, klar! Aber ich will ja nicht als – ja, ich würde als Perversling angesehen werden. Dabei würde ich eigentlich …, ja: nur das Normalste und eines der schönsten Dinge auf der Welt tun!
Hier zeigt sich eine Diskriminierung seitens der gesellschaftlichen Normen gegenüber demjenigen, der versucht, in der Öffentlichkeit ein „(eigentlich) normaler” Mensch zu sein. Dass dies aber im Widerstreit mit dem natürlichen In-die-Welt-geworfen-Sein eines (jeden) Menschen steht, ist einleuchtend. Wenn nun – wie es in unserer Gesellschaft der Fall ist – der Mensch sich für sein Unbekleidet-Sein, d. h. für sein Sich-Selbst-Sein geniert oder gar schämt,(9) steht er in keinem natürlichen Verhältnis zu seinem Bedürfnis nach Freiheit. Er kann also seiner leiblichen Veranlagung, sich nach Bedarf und Situation zu be- bzw. entkleiden, nicht gerecht werden. Diese Verhaltensweise stellt beim Menschen eine Selbstentfremdung dar, da sie von ihm selbst ausgeht. Das Ganze hat folgenschwere Konsequenzen: Das gesellschaftlich anerzogene Genieren für sich selbst ruft gravierende Schäden am individuellen Selbstverständnis und damit am Selbstbewusstsein jedes Einzelnen hervor. Denn die aufgezeigte Selbstentfremdung verhindert, dass wir uns gemäß dem bzw. natürlich aus dem, wie wir in die Welt geworfen wurden, verhalten. Wenn auch die Sozialisation die Kraft hat, diese Selbstentfremdung nicht augenscheinlich werden zu lassen, wirkt das Streben nach Freiheit dennoch parallel weiter(10) und sucht sich Ventile – die zuweilen sicherlich gesellschaftlich schädigender Art sind.

Wir sehen nun klar die Zusammenhänge von Freiheit, (evolutionär) gewordenem Sein und Selbstbewusstsein. Wenn wir nicht gemäß diesem Zusammenhang leben, vollziehen wir offensichtlich eine Selbstentfremdung. Es spricht daher einiges dafür, die Freikörperkultur als eine adäquate Lösung anzusehen, um den hier aufgezeigten Sachverhalten gerecht zu werden. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll hier nicht propagiert werden, immer und überall unbekleidet zu sein, sondern nur, wie es im Zuge dieses Essays gesagt wurde, in bestimmten Situationen, die ein Entkleiden im Sinne des hier dargelegten Freiheitsbegriffs zulassen. Es geht hier um die Entkräftung des gesellschaftlich etablierten Bekleidungszwangs in der Öffentlichkeit, weil jeder selbst entscheiden können sollte, ob er gerade unbekleidet spazieren, baden, sonnen oder sonst etwas tun möchte. Es wäre nur richtig, die Freikörperkultur zumindest wie anderweitige gesellschaftliche Randerscheinungen wie Vegetarismus/Veganismus, Homosexualität etc. zu behandeln. Denn dass wir uns zu diesen Dingen bekennen, ist in unserer Gesellschaft immerhin möglich und wird in der Öffentlichkeit auch ein Stück weit mitgetragen. Der – wie hier aufgezeigt – natürliche und gerechtfertigte Wunsch nach Freiheit wird jedoch regelrecht tabuisiert und besitzt noch nicht einmal den Status der oben beispielhaft genannten Randgruppen.(11)

Dies ist ein sonderbares Phänomen, da „nackt” unter anderem auch „natürlich” bedeutet und unsere Gesellschaft viel mit der Natürlichkeit argumentiert, um konventionelle Verhaltensweisen zu rechtfertigen.(12) Das Problem dabei ist aber, dass „natürlich” und „normal” in den meisten Argumentationsgängen vertauscht werden. So sei es „natürlich”, Fleisch zu essen, da die Menschen dies schon immer getan hätten. Mit dieser Argumentation müsste man aber auch foltern, morden, versklaven, die Umwelt zerstören usw. für natürlich halten und somit als „natürlich” pflegen.(13) Daher ist es allenfalls normal, Fleisch zu essen, weil viele Menschen es über weite zeitliche Strecken getan haben. Die Normalisierung wiederum ist eine gesellschaftliche Konvention bzw. ein Konstrukt, die bzw. das nichts mit Natürlichkeit zu tun hat. Denn wenn die Natürlichkeit in ehrlicher Absicht in einen Argumentationsgang einbezogen werden würde, kämen wahrscheinlich ganz andere gesellschaftliche Normen heraus – mitsamt gelebter Freikörperkultur in der Öffentlichkeit und deren positiven Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Die hier vorgelegte Sicht auf die Selbstentfremdung des Menschen am Beispiel des Bekleidungszwangs bringt auch Licht in eine Diskussion, die in der Badischen Zeitung geführt wird. Der Politologe und frühere Rektor Wolfgang Jäger der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg vertritt in seinem Gastbeitrag der Zeitung laut dem Leser L. Gerken die These, „dass in Deutschland ‚Reste vergangenen politischen Denkens immer wieder aufleben‘, etwa ‚die Überzeugung, dass es ein inhaltlich objektivierbares Gemeinwohl gibt.‘”(14) Dagegen wiederum wehre sich ein anderer Leser, der den Begriff „inhaltlich objektivierbar” für ein „nichtssagendes, unwissenschaftliches Attribut” halte und gegen Jäger polemisiere, dass „dieser […] die Gemeinwohlorientierung der deutschen Politiker seit 1948 als Reste vergangenen politischen Denkens dar[stelle].”(15) Gerken führt dagegen an, dass „der Begriff ‚inhaltlich objektivierbar‘ […] [für die Aussage Jägers] unverzichtbar” sei, weil dessen These ein „allgemeingültiges, von der gesamten Gesellschaft akzeptiertes ‚objektiv‘ fassbares Gemeinwohl” bestreite. Zur Untermauerung von Jägers These erläutert Gerken schließlich, dass „jedes einzelne Individuum je verschiedene Vorstellungen davon [habe], was unter Gemeinwohl zu verstehen sei. Der oft auch emotional geführte Streit über die rechtliche Stellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und über die Behandlung des derzeitigen Flüchtlingsproblems [seien] nur zwei Beispiele von vielen.”(16)

Die erhellende Erkenntnis vor dem Hintergrund dieses Essays ist nun, dass es sehr wohl ein inhaltlich objektivierbares Gemeinwohl gibt. Dieses wird allerdings infolge der Selbstentfremdung des Menschen und der damit verbundenen etablierten Sozialisation nicht erkannt, weil die Menschlichkeit selbst durch die allgegenwärtige Selbstentfremdung des Menschen zurückgesetzt wird. Halten wir also fest: Inhaltlich müsste die hier dargelegte Freikörperkultur durchaus ein von der gesamten Gesellschaft akzeptiertes, „objektiv“ fassbares Gemeinwohl sein, weil mit ihr das Ureigenste des Menschen akzeptiert werden würde. Von dieser Grundlage aus könnten dann auch Themen wie der Umgang mit Flüchtlingen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Religiosität, Veganismus und dergleichen diskutiert werden, da – wie es Wolfgang Jäger formuliert – „[sich e]in gutes Gemeinwesen dadurch aus[zeichnet], dass es den Menschen vor sich selbst zu schützen vermag. Positiv formuliert: Es muss zuallererst der Würde des Einzelnen dienen.“(17) Die Würde eines jeden aber drückt sich doch gerade darin aus, sich nicht für sein eigenes Sein schämen zu müssen:
Wenn Du ein Pferd siehst, denkst Du da „Hey, das Pferd ist nackt?“
Oder wenn Du einen Hund siehst, sagst Du dann „Hey, schau mal ... ein nackter Hund!“
Mir gefällt die Tatsache nicht, dass Menschen ohne Kleidung „nackt“ genannt werden. Wir sind nicht nackt, wir sind nur ohne Kleidung ... wir sind nur Menschen. Wir sind unsere Körper – und es ist keine Schande, was wir sind ...
... egal, in welchem Alter
... egal, mit welchem Geschlecht
... egal, mit welcher Hautfarbe
... egal, mit welcher Religion
... egal, ob behindert oder nicht
... egal, ob dick oder dünn
... egal, welches Aussehen! (18)


(1) - Der Ausdruck des In-die-Welt-geworfen-Seins findet sich bei der existenzialistisch ausgeprägten Philosophie Martin Heideggers. Der Mensch ist gemäß dem Existenzialismus „zur Freiheit verurteilt“ und muss sich selbst seinen Sinn geben.

(2) - Im Allgemeinen wird unter Vernachlässigung der Genitalien oft nur die Figur, also die physische Statur (und die Entsprechung oder Abweichung vom herrschenden Schönheitsideal) als Grund für das Genieren angeführt – so als ob allein sie der Grund dafür wäre. Dies entspricht bei genauerer Beobachtung des Umgangs mit der Figur in der Öffentlichkeit nicht der Wahrheit, da die Hemmung, sich zu entkleiden, sich letztlich am Offenlegen der Genitalien und nicht der Figur zeigt. Auch wird oft in Bezug auf eine wenig ansehnliche Figur der Unwillen geäußert, andere nicht nackt sehen zu wollen bzw. zu müssen. Dagegen könnte die Frage diskutiert werden, ob ein Mensch, der dem herrschenden Schönheitsideal nicht entspricht, kein Recht auf seine persönliche Freiheit hat. Oder anders gefragt, ob einem Menschen das Recht auf persönliche Freiheit abgesprochen werden darf, weil sich andere in ihrem ästhetischen Empfinden gestört fühlen. Aber auch hier zeigt sich, dass diese Äußerungen nicht stringent bzw. nur vorgeschoben sind. Schließlich sehen wir oft genug viele Menschen jeglicher Statur in Badekleidung oder in sonstigen wenig verdeckenden Textilien, ohne wirklich Probleme damit zu haben.

(3) - Das Originalzitat Kants freilich findet sich in anderem Zusammenhang und bezieht sich auf seine Definition von Aufklärung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.” (Kant, I. (1783), „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung”, Berlinische Monatsschrift 4, 481–494).

(4) - Auch bzw. besonders im Schwimmbad ist eine Badehose nicht nur ohne Nutzen und somit unnötig, sondern geradezu unpraktisch (beispielsweise eine kalte nasse Hose beim Ausruhen).

(5) - Zitat aus dem Freiburger Wochenbericht vom 12.08.2015 (Lokales, S. 5).

(6) - Anregung zu diesem Gedanken erhielt ich auf http://www.michis-seiten.de/ (Stand 14.09.2015).

(7) - Das vermeintliche Nacktsein im konventionellen Sinn rührt wohl daher, dass der gemäß den gesellschaftlichen Sitten erzogene Mensch – wenn er unbekleidet ist – seinen sog. Schambereich schutzlos den Blicken anderer ausgeliefert sieht und ihm daher etwas „fehlt”.

(8) - Dem Menschen unserer gesellschaftlichen Normen „fehlt” daher gerade das ungezwungene Ablegen-Können der Kleidung. Nebenbei möchte ich anmerken, dass es hier nicht um eine etymologische Betrachtung von „nackt” geht, um das Gesagte zu begründen, da jede Bedeutungsentwicklung immer auch konventionell behaftet ist (was gerade ein philosophischer Essay zu durchbrechen versucht). Weiter unten wird jedoch noch auf eine Bedeutung von „nackt” einzugehen sein.

(9) - „Sich schämen” kann man im eigentlichen Sinn nur für etwas, was nicht wirklich zu einem gehört oder passt, beispielsweise für eine Verhaltensweise, die man im Nachhinein bereut, weil sie nicht mit dem eigenen Selbstverständnis vereinbar ist. Diese Art des Selbstverständnisses gründet sich gewiss auf Konventionen, wie eben der Bekleidungszwang in der Öffentlichkeit, der bewusst oder auch diffus übernommen wurde. Das hier entwickelte Selbstverständnis bezieht sich freilich auf das natürlich oder evolutionär gewordene Sein, d. h. auf das In-die-Welt-geworfen-Sein, jenseits oder vor aller Konvention. Somit ist es gleichzusetzen mit dem Streben nach Freiheit als ein Bedürfnis natürlichen Ursprungs. Der Ausdruck „sich genieren“ ist ein Unwort, da sich der gesellschaftlich etablierte Gebrauch dieses Wortes mit den Ausführungen dieses Essays verbietet.

(10) - Nach Freuds Instanzenmodell der Seele im „Es”, welches die von der Gesellschaft missbilligten Wünsche dem „Ich”, das im Spannungsverhältnis „Über-Ich (gesellschaftliche Normen)” und „Es” steht, latent vergegenwärtigt.

(11) - Wie zum Schluss noch gezeigt werden wird, ist der Begriff „tabuisieren” in diesem Zusammenhang nicht korrekt, da zum Tabuisieren eine bewusste Absicht gehört. Die Bekleidung in der Öffentlichkeit ist hingegen ein unhinterfragter sozialisierter Zwang, der gar nicht als ein die Gemüter bewegendes Thema angesehen wird – dies geschieht dann allenfalls, wenn er durch ein offensives Ausleben der Freikörperkultur infrage gestellt wird.

(12) - Diese Einsicht wird inzwischen oft bei derartigen Auseinandersetzungen herangezogen. Ich möchte diesbezüglich auf einen Buchauszug verweisen, der in der Zeitschrift natürlich vegetarisch des Vegetarierbunds Deutschland in der Ausgabe 03/2015, S. 10, abgedruckt ist.

(13) - Hier geht es nicht darum aufzuzeigen, dass es falsch ist, Fleisch zu essen, sondern lediglich darum, dass das Argument nicht viel hergibt, um das Fleischessen zu rechtfertigen.

(14) - Gerken, L., „Weder nichtssagend noch unwissenschaftlich”, BZ vom 19.08.2015, S. 18.
(15) - Ebd.
(16) - Ebd.

(17) - Zitat aus Der Sonntag vom 30.08.2015 (Lokales, S. 6)

(18) - http://www.michis-seiten.de/ (Stand 14.09.2015)

Foto © Michael Otto

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