Essays
„Alte Gemälde” — » Wahrheit « oder » Phantasie « ?
Immer, wenn ich mich mit den Gemälden (1), den „alten Meistern” beschäftige, stellt sich mir die Frage, ob der Künstler hier zu seiner Zeit die Realität gemalt und wiedergegeben hat - oder, ob die gemalte Situation seiner (ihrer) Phantasie entsprungen ist und man eigentlich nur einen nackten Knaben in einer irgendwie passenden Umgebung malen wollte.
von Michael Otto
Bild A
Bild B
Bild C
Bild D
Bild E
Haben die Kinder, offensichtlich alles Jungen, damals tatsächlich vollkommen unbekleidet Schafe, Ziegen und Schweine gehütet ?
Da wir hier über das 18. und 19. Jahrhundert sprechen, gibt es keine Zeitzeugen. Auch keine Fotografien, die dies be- oder widerlegen könnten - mit Ausnahme eines Bildes, entstanden so um 1900, welches 2 nackte Jungen vor einer Herde Schafe zeigt:
Ob es sich bei diesen beiden Jungen nun tatsächlich um „kleine Schäfer” handelt, oder ob hier zwei nackte Jungen nur so vor einer Schafherde stehen, ist leider nicht überliefert.
Während das Leben des Adels zu jener Zeit bestens dokumentiert ist, tappt man bei dem „einfachen Volk”, was den Alltag und die Lebensumstände betrifft, so gut wie im Dunkeln. Sicher ist nur, dass das Landleben, das Leben auf einem Hof (2) sehr beschwerlich und entbehrungsreich war. Die Tage waren für jedes Familienmitglied straff durchorganisiert. Eine Kindheit, wie wir sie heute kennen, gab es damals nicht. Jedes Kind hatte seine Aufgaben zu erfüllen: Mädchen unterstützten die Mutter bei der Hausarbeit und versorgten die Kleintiere, Jungen waren für die größeren Tiere (Schafe, Schweine und Ziegen) verantwortlich. Der Vater und die älteren Jungen bestellten die Felder, bzw. versorgten die Großtiere.
Aber diese Umstände bringen uns bei der Frage der „Nacktheit” nicht gerade weiter.
Da man in diesem Punkt auf direkten Wege keine Antwort finden kann, muss man sich dieser Frage einmal von einer ganz anderen Seite nähern, der finanziellen Seite. Dies mag zwar auf den ersten Blick etwas verwirrend klingen, bringt uns aber einen großen Schritt weiter.
Man lebte bescheiden, musste an allen Ecken und Kanten sparen. Zwar brauchte man sich um die Lebensmittel keine allzu großen Sorgen machen, die anderen „Kleinigkeiten”, die man nicht selbst herstellen konnte, waren das Problem ... und bei diesem Punkt konzentrieren wir uns einmal auf die Kleidung.
Ein Stück Leinentuch mit einer Länge von 19 Ellen (3) kostete gut 2½ Reichstaler (4). Bei dieser Wertangabe muss man sich vor Augen halten, dass zum Beispiel ein Knecht gerade einmal 30 bis 35 Reichstaler (plus Kost und Logis) (5) im Jahr verdiente (Die Preise für Schuhwerk befanden sich in noch höheren Dimensionen).
Nun kann man schon mal Preis und Stoff in einer gewissen Relation sehen.
Neben den „Leibchen”, die im Alltag benutzt wurden, gab es natürlich etwas „Feines” (Trachten, etc.) für besondere Anlässe.
Kleidung war also recht teuer, recht kostbar. Da kann es nur von Vorteil sein, wenn man die Kleidung schont. Also liegt es doch nur nahe, wenn man bei durchaus akzeptablen Wetterverhältnissen diese weg lässt und einfache Arbeit eben unbekleidet durchführt. Wir müssen auch bedenken, dass jegliche beschädigte Kleidung (Risse, Löcher) auch immer zusätzliche Arbeit für die Frauen (Mutter, Großmutter oder Tochter) bedeutete - damals gab es ja noch die klassische Rollenverteilung.
Bild F
Bild G
Bild H
Bild I
Schafe, Ziegen oder Schweine zu hüten, war eine recht einfache Arbeit. Diese konnte man also, entsprechendes Wetter vorausgesetzt, durchaus unbekleidet verrichten. Es ist also überhaupt nicht so abwegig, dass die Künstler hier eine reale Situation im Bild festgehalten haben.
Einen weiteren interessanten Einblick verschafft uns ▶ Johann Sadeler, wo er uns mit einem Kupferstich das einfache Bauernleben im 16. Jahrhundert zeigt:
Johann SadelerBild A → Anna Lea Merritt (1844-1930) - „Kleiner Schäfer, Panflöte spielend”
Bild B → Adam Elsheimer (1578-1610) - „Schäfer” - um 1610
Bild C → Carl Hans Schrader-Velgen (1876-1945) - „Junge Ziegenhirten”
Bild D → Henry Ryland (1856-1924) - „Kleiner Schafhirte”
Bild E → George Percy Jacomb-Hood (1857-1929) - „Der kleine Schweinehirte”
Bild F → Christoffer Wilhelm Eckersberg (1783-1853) - „Schäfer”
Bild G → Jules-Elie Delaunay (1828-1891) - „Bei der Feldarbeit”
Bild H → František Bohumil Doubek (1865-1945) - „Allegory of Harvest”
Bild I → Oswald Ritter von Krobshofer (1883-1960) - „Nackter Hirtenjunge”
(1) - Gemälde mit Motiven aus der Freikörper-, bzw. Nacktkultur → siehe auch HIER
(2) - „Bauernleben: Vom alten Leben auf dem Land” - Kurt Bauer
(3) - 1 Elle (altes Längenmaß) entspricht im Ø 57 cm (regional unterschiedlich)
(4) - Preis um 1850 nach Münch
(5) - 1855 → Gesindebuch Stöcker, 1851-1912