Therese Mülhause-Vogeler

Wandervogel  und  Freikörperkultur

Wenn man die ersten Träger beider Bewegungen zeitlich in Beziehung setzt, so wird man feststellen können, daß hier fast gleichzeitig und zunächst ohne Beziehung zueinander ein Aufbruch aus der bürgerlichen, etwas dumpf gewordenen Atmosphäre der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts erfolgte, ein aktiver Widerstand gegen eine Lebensform, die man allmählich als unwahr und unfrei zu empfinden begann, als Unnatur.
Es ergab sich daher als - unbewußt gezogene - logische Folgerung, daß man sich den Quellen des Lebens wieder zuwandte, die davon frei zu machen geeignet erschienen - der natur in ihren Erscheinungsformen: der Landschaft, dem Tier, der Pflanze, nicht zuletzt aber auch dem Leib des Menschen.

Der Aufbruch in die Landschaft geschah auf die selbstverständlichste Weise durch das wandern, dies nicht nur im Wandervogel. Hier wurde man der Natur unmittelbar gewahr, umso mehr, je näher man ihr kam, also abseits der breiten Wege, eingeladen in die verborgenen Winkel, die dann freilich von der wandernden Jugend mit leben - und dem dazugehörigen Geräusch - erfüllt wurden.

Das ist der Weg des Wandervogels in seinen ältesten Formen und später: durch das direkte erleben der Natur angeregt zu werden zu einem neuen Daseinsgefühl, der Natur verbunden, aber sonst frei.
Diese Freiheit vom herkömmlichen, überlebten bekundete der junge Mensch jener Zeit in der Loslösung von der - für Wanderungen, schlafen im Heu oder unter der Zeltplane - recht unpraktischen Kleidung.
Dafür greift er zur kurzen Hose, zum Hemd mit Schillerkragen (1), zur Sandale oder zum Wanderschuh. Mädchengruppen folgten später mit Hänger- oder Dirndlkleid. Nebenbei: auch die „bürgerliche Mode” profitierte, wenn auch später, von diesen Anregungen.

Zu den großen Erlebnissen gehörten, als später, nach dem Ersten Weltkriege die Heimgekehrten sich zu Bünden zusammenschlossen, die Sonnenwendfeste mit dem ergriffenen aufschauen zu der lebendigen, läuternden Flamme, mit Feuerspruch und Flammensprung, mit den vielen, vielen Volks- und Wanderliedern und dem späten kurzen Schlaf am glosenden Feuerrest. Dazu gehörte auch das Schwimmen und Luftbaden „ohne”; denn wer nahm schon im sowieso nicht leichten, mit Zeltplane und „Hordenpott” (2) beschwerten „Affen” (3) auch noch Badezeug mit? Man suchte und fand abgelegene Buchten am See, unbegangene Stellen an Flußufern, Lichtungen im Walde.

Alles erleben bedarf, wenn es in unserer Lebensgestaltung sich auswirken soll, der Besinnung („Bewältigung” sagt man heute). Wer mehr von seiner Muttersprache versteht als die tausend Worte Deutsch für den täglichen Gebrauch, der erkennt, was das heißen will: Besinn-ung: einen Sinn geben. Diese Sinngebung geschah natürlich in erster Linie von den Älteren her, die in der Führung standen, und wurde besonders gepflegt in der „Freideutschen Jugend” (nicht zu verwechseln mit der FDJ der DDR!). In ihr waren die Bünde zusammengeschlossen, die den Aufruf zum Jugendtag auf dem Hohen Meißner unterzeichneten:
• Deutsche Akademische Freischar
• Deutscher Bund abstinenter Studenten
• Deutscher Vortruppbund
• Bund Deutscher Wanderer
• Wandervogel e. V.
• Jungwandervogel
• Österreichischer Wandervogel
• Germania - Bund abstinenter Schüler
• Freie Schulgemeinde Wickersdorf
• Bund für freie Schulgemeinden
• Landschulheim am Solling
• Akademische Vereinigungen Marburg und Jena
• Sera-Kreis Jena
• Burschenschaft Vandalia, Jena

Aus diesen Kreisen heraus, unter Mitwirkung wohlwollender und gleichgesinnter Persönlichkeiten unter den „alten”, wurde dann auch die Formel geboren, der sich heute noch die ehemals Jugendbewegten verpflichtet fühlen:
„Die Freideutsche Jugend will ihr Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.”

Hier war dem Schwung und der Tatkraft der Jugend eine Aufgabe gestellt. Es wurde damals viel diskutiert unter den Älteren über Wege und Möglichkeiten, über die durch die Befolgung der Formel sich auftuende Probleme im Zusammenstoß mit der anders gesonnenen und handelnden Umwelt.

Daß sich die „Alten” keineswegs immer dem damaligen Aufbruch der Jugend feindlich oder ablehnend in den Weg stellten, eher zu fördern geneigt waren, bezeugt die Teilnahme von damals längst gereiften Persönlichkeiten mit fest umrissenen Lebensaufgaben und Zielen an der Tagung auf dem Meißner.

Dringlich war nach Beantwortung der Frage „Freiheit wovon?” die der zweiten, schwerer zu beantwortenden Frage „Freiheit wozu?”.
Hier sollte die Meißner-Formel Anregung und Richtschnur in einem sein. Es blieb damit dem Einzelnen zu tun übrig, was er mit seinen Idealen vereinbar fand. Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß die Jugend sich vom Meißnertreffen den Anstoß erhoffte, ihrer Sinngebung des Jugenderlebnisses Raum und Wirkung zu verschaffen. Aber in die verheißungsvollen Ansätze brach der Krieg 1914 und rief die gleiche Jugend zu den Fahnen. Es spricht für ihren Idealismus, dass die meisten von ihnen freiwillig sich stellten im Glauben an eine gerechte Sache, an die Verteidigung von Heim und Herd, von Heimat und Vaterland.

Unabhängig von diesem Aufbruch des Wandervogels und verwandter Bünde in der Freiheit entstand aus ähnlichen Wünschen und Strebungen ein anderes herausbrechen aus der bürgerlichen Enge mit ihrer doppelbödigen Moral, ihrem auf den Schein gerichteten Lebensstil, ihrer Abkehr von der Natur. Man braucht nur die Namen Richard Ungewitter, Fidus, Magnus Weidemann, Richard Giesecke zu nennen, damit dem Eingeweihten klar sei, welche Bewegung gemeint ist: die Freikörperkultur, die sich freilich damals ohne Verschämtheit Nacktkultur nannte.

Auch hier vollzog sich ein bündischer Zusammenschluß erst nach dem Ersten Weltkrieg. Der Weg ging auch hier über das Erlebnis zur Besinnung; und dies schon sehr bald, um das Erlebnis in seiner Auswirkung zu bekräftigen, sein Leben nach den neuen Erkenntnissen zu gestalten. Die Ergebnisse der Besinnung auf das Erlebnis der Nacktheit in der Natur mußten in etwa auf die gleichen Forderungen herauskommen, die in der Formel vom Hohen Meißner genannt werden: Gestaltung des Lebens aus eigener Bestimmung, in eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit.
Und dies ist der Punkt, wo sich die Jugendbewegung und die Freikörperkultur begegnen. Eine ganze Anzahl solcher, die durch die Jugendbewegung gegangen sind, stellten in der FKK den oft aktivsten Teil der Bünde und stellen ihn zum Teil noch.

Warum aber braucht es der Bünde überhaupt ?
Genügt es nicht, wenn jeder für sich oder in kleiner, freundschaftlich verbundener Gruppe seine Überzeugung zu verwirklichen sich bemüht?

Die Antwort gebe ein kleines Erlebnis im Wandervogel.
Bundestag in Stresow, Pommern, an der Ostsee. Nach Frühstück und Morgenandacht (es ist Sonntag) im Wäldchen auf der Düne - hinunter an den Strand! Es ist sehr heiß. Die Kleider herunter und - nein! nicht in die Badehose, sondern wie Gott uns geschaffen - ins Wasser. Schwimmen, planschen, wieder heraus, in den Sand zum trocknen. Freude am sich-bewegen, am laufen und springen, an Gymnastik und Volkstanz. Es ist so schön, nackt zu sein im warmen Winde, im Licht des klaren Himmels ... Da marschiert ein Fremder daher, stutzt, guckt, guckt noch einmal, geht weiter, gelangt in unsern Kreis. Keiner von uns flieht etwa. Es war ja natürlich, nackt zu sein. Unpassend in dieser Umgebung war der Fremde mit dunklem Anzug, Bügelfalte und Stehkragen.
Er fragt nach unserm „Leiter”. Wir rufen Karl Bückmann. Er kommt, stellt sich, nackt wie er war, einer Auseinandersetzung mit dem Fremden. Nahestehende hören: Recht auf gesunde Nacktheit, anerzogenes Schamgefühl, Klima und enge des städtischen Zusammenlebens erzwingen Kleidung, schließlich werden noch die alten Griechen bemüht mit ihrem Gymnasion. Den Herumstehenden wird es zu bunt. Sie schließen, natürlich immer „ohne”, einen Kreis um die Debattierenden. Die jungen markieren „bekleidet” durch eine Krawatte oder ein Halstuch. Im Kreise umtanzen sie die beiden Gegner unter absingen eines Liedes.
Dem Fremden wird wohl etwas unheimlich vor der nackten Übermacht. Er verläßt kopfschüttelnd die Stätte. Es könnte „etwas nachkommen”, meint mancher und meint damit eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Es kam nichts nach.

Aber in manchem andern Fall, wo Freikörperkulturanhänger einen abgelegenen aber ungeschützten Platz für Sonnen- und Luftbad, Schwimmen oder Gymnastik, Spiel und Sport nutzten, kam „etwas” nach. Man brauchte also Gelände, in schöner, naturhafter Landschaft, umhegt und gegen Einsicht geschützt, um alle Anstoßnehmerei zu vermeiden. Aber Gelände kosten Geld. Man brauchte also eine fest zusammenstehende Gemeinschaft - denn es gab keine Krösusse in der FKK - die solche Ausgaben finanzieren konnten mit gemeinsamen finanziellen Kräften und Opfern. Hier liegt die Wurzel für den bündischen Zusammenschluß. Eine etwas prasaische aber kräftige Wurzel. Ungewitter war wohl der erste, der solche Gelände verwirklichte, nachdem er seine Loge „Treubund für aufsteigendes Leben” gegründet hatte. Die im „Reichsbund für Freikörperkultur”, sitz Berlin, vereinigten FKK-Gruppen im Reich, die von Robert Laurer gegründete „Liga für freie Lebensgestaltung” folgten.
Die Zäsur in der Entwicklung, bedingt durch das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg, wurde durch Erhard Wächtlers und seiner Freunde intensive Arbeit wieder wettgemacht.

Nenn sich die heutige Jugend in der FKK zu den Forderungen der Formel vom Hohen Meißner von 1913 bekennt, so gibt sie damit kund, dass ihr ernst ist mit der Sinngebung ihres Erlebens, der „Bewältigung”, d. h. auch der Verwirklichung der aus dem erleben gewonneen Erkenntnisse. Es steht der Jugend wohl an und gehört zu ihrem Bilde, dass sie „unbeingt” ist, keine Ausflüchte, keine Drückebergerei vor den erkannten und anerkannten idealen Forderungen gelten läßt. Aber vielleicht hat die heutige Jugend für das neue Meißnerfest eine Formel, die ihre Stellung, ihr Wollen und ihre Ziele in einer inzwlschen so sehr veränderten Umwelt neu umreißt. Es gibt zwar Ideale, die durch alle Zeiten ihre ethische Gültigkeit behalten, und ich meine, dass mindestens Wahrhaftigkeit und Verantwortungsbeußtseln dazu gehören. Mit welchen praktischen Forderungen daraus man sich identifiziert, gesundheitlichen, suchtbekämpfenden, kultur- oder sozialpolitischen, ist die zweite Frage, die jeder für sich beantworten und nach deren Beantwortung er sich seinen engeren Kreis suchen muß.

Therese Mülhause-Vogeler

Quelle: „der ruf”, Folge 65/66

(1) → Der Schillerkragen ist ein offener, breiter, über dem Jackenkragen getragener Hemdkragen.
(2)Hordenpott, bzw. Hordentopf - auch „HoPo” genannt, ist ein Topf, der hervorragend dazu geeignet, Speisen (Suppen) über einem offenen Feuer zuzubereiten.
(3) → Als „Affe” wurde scherzhaft ein hochbepackter Tornister mit Fellbezug genannt, der aus der Entfernung aussah, als hätte man einen Affen auf dem Rücken sitzen.

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